Hauke Jaacks, Hauke Jaacks Landwirtschaft, Hamburg

Muss ein bestehender Milchbetrieb einen Reiterhof weichen? Das Grundstücksverkehrsgesetz in der Praxis.

 Wir wollen ausdrücklich klarstellen, dass sich die Kritik nicht gegen den Investor richtet, sondern an die Verwaltung. Das Vorhaben des Investors ist nicht verwerflich. In der Kritik steht die Anwendung des Grundstücksverkehrsgesetzes durch die Hamburger Behörde.

(mehr …)

„Werner-Bonhoff-Preis“ – Preisträger 2020
Peer Sachteleben, Schlehbaumhof, Osnabrück, Niedersachsen vs. Stadt Osnabrück – Bauamt

Die Krux des mobilen Schweinestalls: Konzept zur artgerechten Nutztierhaltung als Herausforderung für Behörden 

Inspiriert durch seine Erfahrungen während des Studiums der ökologischen Landwirtschaft, entschloss sich Peer Sachteleben bei Gründung seines Betriebes für die Freilandhaltung seiner Tiere, bei der das Tierwohl im Vordergrund steht. Sein Ziel war es, auf seinem Hof ein geschlossenes System – von der Sauenhaltung über die Ferkelaufzucht bis hin zur Mast – entstehen zu lassen, mit möglichst geringer Einwirkung von außen. Die Idee: Boden, Pflanzen und Nutztiere profitieren gegenseitig voneinander und bilden somit eine nachhaltige Ressource.

Seine ursprünglich geplante Freilandhaltung konnte er aufgrund der laut Veterinäramt bestehenden Gefährdung durch die Schweinepest nicht umsetzen, fand aber dank seines Erfindungsgeistes eine gute Alternative. Diese führte jedoch bauordnungsrechtlich zu Problemen, da sich das zuständige Bauamt nicht durchringen konnte, die mobilen Schweineställe wie mobile Hühnerställe als verfahrensfrei einzuordnen und somit ein förmliches Baugenehmigungsverfahren erforderlich wurde, welches knapp zwei Jahre andauerte.

Der Fall von Herrn Sachteleben beleuchtet beispielhaft den Themenkomplex einer mangelnden Problemlösungsorientierung der Verwaltung auf Vorhaben, die keineswegs allein positive unternehmerische Aspekte, sondern auch Interessen des Gemeinwohls in sich vereinen. Gerade in Zeiten, in denen sowohl Bürger als auch Politik in der Tierhaltung und Fleischproduktion eine Stärkung des Tierwohls und des Verbraucherschutzes fordern, wäre es wünschenswert, entsprechende praktische Umsetzungsbemühungen nicht unnötig zu erschweren und die Pionierarbeit zu unterstützen.

Peer Sachteleben ist auf dem Schlehbaumhof im niedersächsischen Osnabrück aufgewachsen. Zuletzt hatten seine Urgroßeltern auf dem Hof Tiere gehalten. Herr Sachteleben entschied sich, die Tradition seiner Vorfahren fortzuführen und absolvierte zunächst eine landwirtschaftliche Ausbildung, die er als duales Studium in ökologischer Landwirtschaft fortführte. Mit der Zeit entwickelte sich die Idee, auf dem heimischen Betrieb Schweine zu halten. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin bewirtschaftet er seit dem Jahr 2018 einen Bioland-zertifizierten Betrieb mit aktuell 7 Zuchtsauen und 50 Mastschweinen. Auf seinen 35 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche baut er Futtergetreide und Ackerbohnen für die Schweine an.

Alle zwei Wochen lässt Peer Sachteleben zwei bis drei Schweine bei einem regionalen Metzger schlachten und zu Wurst und Teilstücken verarbeiten, die er ohne Zwischenhändler direkt vertreibt.

Absage für Freilandhaltung aufgrund Gefährdung durch Schweinepest

Für seine ursprünglich geplante Freilandhaltung erhielt er jedoch im März 2016 vom Veterinärdienst des Landkreises Osnabrück eine Absage. In dieser heißt es „Die Genehmigung von Freilandhaltungen werden im Landkreis Osnabrück derzeit versagt, da eine Gefährdung durch Haus- oder Wildschweinpest gesehen wird und die Gefahr nicht auf andere Weise abgewendet werden kann.“

Das Veterinäramt teilte ihm mit, dass als Alternative zur Freilandhaltung eine Auslaufhaltung in Betracht käme. Bei dieser können die Tiere im Gegensatz zur Freilandhaltung jederzeit in einen Stall eingesperrt werden. Weiterhin sei üblich, dass die Tiere bei der Auslaufhaltung nachts in einen Stall eingesperrt werden. Das Veterinäramt informierte Herrn Sachteleben darüber hinaus, dass eine Auslaufhaltung nicht genehmigungspflichtig sei, jedoch könne das Veterinäramt Auflagen machen, wie die Umzäunung des Auslaufes auszusehen habe.

Um die Aspekte des Tierwohls trotz Versagung der Freilandhaltung in einem alternativen Haltungskonzept umzusetzen, musste der Jungunternehmer kreativ werden.

Erfindungsgeist des Jungunternehmers führt zu innovativem Konzept

Hochmotiviert und mit Unterstützung seines Vaters machte sich Herr Sachteleben an die Planung:

Heraus kam ein 2,88 m breiter und 7,12 m langer mobiler Schweinestall mit einem für die Tiere nutzbaren Innenraum von ca. 15 m².

Aufgrund des Nährstoff-managements (Kreislauf der Nährstoffe Stickstoff, Phosphor und Kalium) werden die mobilen Ställe samt Auslauf etwa alle vier Wochen auf den Ackerflächen versetzt, so wird eine zu hohe Keimbelastung vermieden und die Böden können sich regenerieren.

Gleichzeitig erhalten die Schweine durch das Versetzen der Ställe regelmäßig eine saubere neue Auslauffläche.

Auf dieser bekommen die Tiere den nötigen Auslauf, können in der Erde graben, sich suhlen und ihren natürlichen Bedürfnissen nachgehen. Bei Erkrankungsgefahren, wie z.B. der Schweinepest, können die mobilen Ställe ganz normal verschlossen werden und erfüllen damit die Auflagen zum Seuchenschutz. 15 m² Platz bietet der Stall einer Sau und ihren Ferkeln und erfüllt damit Biostandard.

Herr Sachteleben setzte die vom Veterinäramt erwähnten Vorgaben an eine Umzäunung um und sicherte den Auslauf seiner Tiere mit einem Doppelzaun, der sowohl das Eindringen fremder Tiere sowie das Untergraben des Zaunes durch Tiere durch einen zusätzlichen Spanndraht wirksam verhinderte.

Förmliche Baugenehmigung für mobilen Schweinestall?

Nachdem Herr Sachteleben vom Veterinäramt „grünes Licht“ erhalten hatte, stellte sich für ihn jedoch auch die Frage, ob er für die mobilen Ställe eine bauordnungsrechtliche Genehmigung benötigte. Herr Sachteleben wollte nämlich eine Stallbauförderung des Landes Niedersachsens (Agrarinvestitionsförderungsprogramm) beantragen. Bei der Beantragung der Förderung war jedoch notwendig, dass er Angaben dazu tätigt, ob sein Vorhaben genehmigungsfrei ist oder genehmigungsbedürftig. Im zweiten Fall hätte er seinen Antragsunterlagen für die Förderung die bauordnungsrechtliche Genehmigung beifügen müssen.

Um diese Frage zu klären, wandte sich Herr Sachteleben im November 2017 an das zuständige Bauamt. Nach einem ersten persönlichen Gespräch übersandte er im Dezember 2017 seine Konzeptbeschreibung und erbat für den Fall, dass er keine förmliche Baugenehmigung für seine mobilen Ställe benötige, eine entsprechende Negativbescheinigung, so dass er die Stallbauförderung beantragen könne. Nachdem eine entsprechende Antwort zunächst ausblieb, wandte sich Herr Sachteleben im Februar 2018 erneut an das Bauamt und erfragte, ob sich die bestehende Praxis einer bauordnungsrechtlichen Genehmigungsfreiheit für mobile Hühnerställe in Niedersachsen nicht auch auf mobile Schweineställe übertragen ließe. Denn die gesetzlichen Vorgaben, die für die genehmigungsfreien mobilen Hühnerställe galten, erfüllte er mit seinen mobilen Schweineställen auch.

Info: Gerade weil der bürokratische Aufwand zur Genehmigung von mobilen Hühnerställen als unangemessen hoch kritisiert wurde, änderte Niedersachsen im Jahr 2017 seine Bauordnung entsprechend und legte fest, dass unter bestimmten Voraussetzungen für mobile Hühnerställe keine Baugenehmigung erforderlich ist.

§ 60 NBauO – Verfahrensfreie Baumaßnahmen, Abbruchanzeige

(1) Die im Anhang genannten baulichen Anlagen und Teile baulicher Anlagen dürfen in dem dort festgelegten Umfang ohne Baugenehmigung errichtet, in bauliche Anlagen eingefügt und geändert werden (verfahrensfreie Baumaßnahmen). 2 Verfahrensfreie Baumaßnahmen sind auch die im Anhang genannten Baumaßnahmen.

Punkt 11.16 im Anhang zu § 60 Abs. 1 NBauO

ortsveränderlich genutzte und fahrbereit aufgestellte Geflügelställe zum Zweck der Freilandhaltung oder der ökologisch-biologischen Geflügelhaltung, wenn diese einem landwirtschaftlichen Betrieb dienen und jeweils nicht mehr als 450 m3 Brutto-Rauminhalt sowie eine Auslauffläche haben, die mindestens 7 m2 je Kubikmeter Brutto-Rauminhalt beträgt.

Herr Sachteleben erhoffte sich, dass – da seine mobilen Ställe den o.g. Anforderungen entsprachen und lediglich den Unterschied boten, dass anstelle von Hühnern Schweine gehalten werden – die Behörde entsprechend handeln und in seinem Fall keine förmliche Baugenehmigung für notwendig erachten würden.

Eine entsprechende Anwendung der Vorschriften zu den mobilen Hühnerställen auf die mobilen Schweineställe läge auch aufgrund dieser Gesetzesänderung zugrundeliegenden Begründung nahe: Laut der Landesregierung sollten durch die Gesetzesänderung tiergerechte Haltung gefördert werden und hierfür insbesondere (bürokratische) Hürden abgebaut werden.

Bauamt sieht Verfahrensfreiheit nur für mobile Geflügelställe – mit zweifelhaften Argumenten

Im März 2018 teilte das Bauamt Herrn Sachteleben mit, dass es sich bei seinen mobilen Schweineställen nicht um genehmigungs- bzw. verfahrensfreie Baumaßnahmen handeln würde und daher eine förmliche Baugenehmigung erforderlich wäre. Zur Begründung führte das Bauamt in seinem Schreiben vom 19.03.2018 insbesondere aus, dass verfahrensfrei nur Gebäude seien, die nur zum vorübergehenden Schutz von Tieren bestimmt seien und keine Möglichkeit des Verschließens bzw. Einsperrens von Tieren bilden. Weiterhin seien nach Ziffer 11.16 des Anhangs zu § 60 Abs.1 NBauO ortsveränderlich genutzt und fahrbereit aufgestellte Geflügelställe verfahrensfreie Baumaßnahmen. Da es sich bei den mobilen Ställen von Herrn Sachteleben jedoch um Ställe handelt, die „nicht der Geflügelhaltung dienen“, seien die einschlägigen öffentlich-rechtlichen Anforderungen im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen.

Die vom Bauamt mitgeteilten Gründe für die Entscheidung werfen jedoch einige Zweifel auf.

Zum einen verfügen auch die verfahrensfreien mobilen Hühnerställe regelmäßig über eine Vorrichtung, um die Tiere (zum Schutz / Transport) darin einsperren zu können und sind keine einfachen „Unterstände“ o.ä., sodass dieses Argument nicht zu überzeugen vermag. Weiterhin verfügen die mobilen Schweineställe von Herrn Sachteleben (genau wie mobile Hühnerställe) über eine Vorrichtung, aufgrund derer sie mithilfe eines Traktors fahrbereit sind und werden zweifellos ortsveränderlich genutzt, da sie alle vier Wochen umgesetzt werden. Die Voraussetzungen des Punktes 11.16 im Anhang zu § 60 Abs.1 NBauO erfüllt Herr Sachtleben durch seine mobilen Ställe – mit der einzigen Ausnahme, dass es sich um Schweine und nicht um Hühner handelt.

Für Herrn Sachteleben bedeutete die Entscheidung des Bauamtes nun, dass er für seine großen mobilen Ställe mit jeweils nutzbarem Innenraum von ca. 15 m² einen förmlichen Bauantrag stellen musste.

Herausforderung für Behörden: förmliches Bauantragsverfahren & neuartiges Konzept

Doch auch das förmliche Antragsverfahren gestaltete sich schwierig, da allein die Angabe des Flurstückes, auf dem das Vorhaben „erbaut“ werden sollte, im Fall von Herrn Sachteleben nicht ohne Weiteres zu bestimmen war: immerhin rotieren die mobilen Ställe alle vier Wochen auf einem Gesamtgrundstück von 35 ha und verschiedenen Flurstücken. Wie Herr Sachteleben mitteilte, empfahl ihm eine Sachbearbeiterin zunächst, eine Bauvoranfrage gem. § 73 NBauO zu stellen, um darin einzelne Fragen der Genehmigungsbedürftigkeit klären zu lassen. Diesem Rat kam Herr Sachteleben am 16.05.2018 nach. Leider erhielt er jedoch auf seine Bauvoranfrage keine zeitnahe Entscheidung, jedoch im Sommer 2018 den Rat, nun doch einen förmlichen Bauantrag zu stellen, da  zwischenzeitlich eine Anzeige eines Nachbarn von Herrn Sachteleben eingegangen sei, in der es hieß dass es sich bei seinen mobilen Ställen um sog. illegale Bauten handele. Daraufhin stellte Herr Sachteleben am 26.08.2018 einen förmlichen Bauantrag.

Zweifelhafte Aussagekraft des geforderten Immissionsschutzgutachtens

Im Rahmen des Baugenehmigungsverfahren wurden zahlreiche Behörden beteiligt. So wurden von der unteren Wasserbehörde der Stadt Osnabrück, dem Veterinärdienst, der unteren Naturschutzbehörde der Stadt Osnabrück und der Düngebehörde der Landwirtschaftskammer Niedersachsen Stellungnahmen und Gutachten gefordert. Wie Herr Sachteleben mitteilte stieß er mit seinem Haltungskonzept, welches nicht so recht in die üblichen Formen passen wollte, im gesamten Genehmigungsverfahren immer wieder auf neue Hürden. Im Januar 2019 nahm er Kontakt mit der Landwirtschaftskammer Niedersachsen – Bezirksstelle Osnabrück auf und erklärte dort wiederholt sein Konzept und die dazugehörigen Abläufe, da im Genehmigungsverfahren weitere Angaben zur Nährstoffverwertung und den Geruchsimmissionen gefordert wurden.

Hier kritisiert Herr Sachteleben, dass ein vernünftiges Gutachten nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (BImschG) in seinem Fall kaum zu erstellen war, denn auf den 35 ha gibt es aufgrund der zig Möglichkeiten den Stall aufzustellen, ebenso viele Möglichkeiten von Emissionssituationen. Da es sich nicht um ortsfeste, sondern um „wandernde“ Emissionsquellen handelt, wurde vom Gutachter ein worstcase- Szenario angenommen und die Ställe auf den 7 Flächen gemäß des jeweils zur Verfügung stehenden Auslaufes (willkürlich) verteilt, welches damit nicht den tatsächlichen Gegebenheiten des Betriebes entspricht.

Bezüglich der im Gutachten angesetzten Werte für die Geruchsemissionen ist davon auszugehen, dass diese in der deutlich Realität geringer sind, nicht aufgrund der geringen Anzahl der Tiere, sondern insbesondere weil in der Berechnung im Gutachten nicht berücksichtigt wurde, dass die Schweine von Herrn Sachteleben ihre Geschäfte vorwiegend draußen erledigen, im Gutachten wurden jedoch Werte für innen angenommen. Weiterhin werden die Ausscheidungen der Tiere bei Herrn Sachteleben draußen vom Ackerboden aufgenommen, was die Emissionen ebenfalls beeinträchtigt. In herkömmlichen Mastställen ist dies aufgrund der dort vorhandenen sog. Spaltböden nicht der Fall.

Dass die Grundlage im Gutachten die tatsächlichen Umstände nicht konkret abzubilden vermag, wird auch im Gutachten klargestellt. Hier heisst es „(…) Letztlich ist in diesem Fall nur eine Annäherung an die tatsächliche Geruchsbelastung möglich. Gründe hierfür sind die besondere Fallkonstellation (keine ortsfesten Quellen, keine gesicherten Emissionsfaktoren für Schweinemobilställe und Ausläufe) und die systemischen Grenzen des Ausbreitungsberechnungsmodelles AUSTAL. (…)“

Somit erscheint fraglich, warum ein derartiges Gutachten im Rahmen des Verfahrens als entscheidungserheblich und damit notwendig erachtet wurde, wenn im Fall von Herrn Sachtelebens Betrieb lediglich „Annäherungen“ an die Realität mittels Szenarien hergeleitet werden können.

Herr Sachteleben teilt hierzu mit, dass das Gutachten für eine so geringe Schweinezahl einen unverhältnismäßig hohen Aufwand darstellte. Er hätte sich gewünscht, dass sich die Behörden ein Bild vor Ort gemacht hätten, anstelle ein Gutachten zu fordern, welches letztlich lediglich abstrakte Berechnungen beinhaltet, ohne die konkrete Situation abzubilden.

Im Mai 2019 konnte die Landwirtschaftskammer ihre Stellungnahme zur Geruchsimmissionsprognose fertigstellen. Herr Sachteleben kritisiert, dass er zwar der förmlichen Notwendigkeit des Einholens eines Gutachtens im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens nachgekommen sei, jedoch das Gutachten selbst auf seinen Einzelfall bezogen keine realistische Aussagekraft hätte – der Sinn sei damit verfehlt.

Im November 2019 folgte sodann die Nachbarbeteiligung im Baugenehmigungsverfahren, die zur Folge hatte, dass weitere Gutachten, u.a. zur Grundwasserbelastung, eingeholt werden mussten.

Baugenehmigung Ende Januar 2020 unter zahlreichen Auflagen und Bedingungen erteilt

Am 29.01.2020 erteilte die Stadt Osnabrück Herrn Sachteleben gemäß § 70 NBauO die Baugenehmigung für das Aufstellen von 25 mobilen Schweineställen. Zahlreiche Auflagen und Bedingungen der unteren Wasserbehörde, der Düngebehörde, der unteren Naturschutzbehörde sowie des Veterinärdienstes wurden Bestandteil der Genehmigung.

Ob die Genehmigung Bestandskraft erlangen wird, vermag Herr Sachteleben noch nicht abzuschätzen, da insgesamt sieben am Verfahren beteiligte Nachbarn Widerspruch einlegen können. Einige, so Herr Sachteleben, hätten sich bereits über eine Lärmbelästigung durch die, nur tagsüber im Freien gehaltenen knapp 60 Tiere auf dem 35 ha großen Grundstück beschwert.

„Als verbesserungsbedürftig empfinde ich die Kommunikation zwischen den Behörden, zum Beispiel zwischen Bauamt und Natur-/Wasserschutzbehörde. Alle beteiligten Sachbearbeiter versuchten mein Vorhaben in die üblichen Kategorien einzufügen, was meiner Ansicht nach nicht passt und zu Widersprüchlichkeiten führt. Ich finde es auch schade, dass sich die zuständigen Sachbearbeiter so wenig zutrauen und keine Entscheidungen treffen wollen.“

P. Sachteleben, 24.02.2020

Stallbauförderung abgelehnt, Frist verstrichen

Die von Herrn Sachteleben begehrte Stallbauförderung bleibt ihm jedoch trotz erteilter Baugenehmigung versagt. Wie er im März 2020 von der Landwirtschaftskammer Niedersachsen erfuhr, ist er als Existenzgründer zwar von dem Erfordernis befreit, in den letzten zwei Jahren mindestens 1 EUR Gewinn erwirtschaftet zu haben. Existenzgründer sind hiervon für die ersten zwei Jahre nach Gründung befreit. Bei der Fristberechnung gilt jedoch nicht das Wirtschaftsjahr, sondern das tatsächliche Datum der Gründung. Da der Betrieb von Herrn Sachteleben am 01.02.2018 gegründet wurde und das aktuelle Antragsverfahren für die Stallbauförderung frühestens im Mai 2020 beginnt, ist zu diesem Zeitpunkt die 2-jährige Frist auf Befreiung des Nachweises einer Gewinnerzielung verstrichen.

Der Fall von Herrn Sachteleben zeigt exemplarisch die Schwierigkeit von Behörden, neuartige Vorhaben mit bestehendem Gesetzesrecht und Verfahrensgängen in Einklang zu bringen. Gerade in Zeiten, in denen sowohl Bürger als auch Politik in der Tierhaltung und Fleischproduktion eine Stärkung des Tierwohls und des Verbraucherschutzes fordern, wäre es wünschenswert, entsprechende praktische Umsetzungsbemühungen nicht unnötig zu erschweren und die Pionierarbeit zu unterstützen.

Anmerkung / Info: Mit seiner Idee zum mobilen Schweinestall als Alternative zur Freilandhaltung wurde Herr Sachteleben im Frühjahr 2019 mit dem Innovationspreis der Initiative Tierwohl (ITW) ausgezeichnet.

Stand der Falldarstellung: 27.05.2020

Weitere Informationen zum Fall:

15.12.2021: daserste.de – Weniger Bürokratie? Ja, aber…

25.09.2020: die-gemuesegaertner.de – Schlehbaumhof gewinnt den ZEIT Wissen Preis 2020

12.03.2019: noz.de – Warum ein Landwirt aus Osnabrück mit mobilen Ställen Maßstäbe setzt

Klaus Engelking, Baubetriebe Engelking e.K. Vlotho, Nordrhein-Westfalen vs. IKK classic

Krankenversicherung für Selbständige: Ausschluss von Beitragserstattung aufgrund Nichtberücksichtigung von Negativeinkünften

Klaus Engelking ist seit 1980 Inhaber einer Baufirma und eines Sachverständigenbüros im ostwestfälischen Vlotho. Als Selbständiger ist er seit vielen Jahren bei der Innungskrankenkasse IKK classic freiwillig kranken- und pflegeversichert. Wie bei allen Mitgliedern erfolgt die aktuelle Beitragsberechnung auf Grundlagen des zuletzt vorgelegten Einkommensteuerbescheides. Aus diesem Grund kommt es naturgemäß zu zeitlichen Verschiebungen zwischen der Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse und der festgesetzten Beiträge: Weist der Einkommensteuerbescheid einen hohen Umsatz für ein „gutes“, jedoch in der Vergangenheit liegendes Jahr aus, wird das Mitglied von der Krankenkasse im nächsten aktuellen Beitragsbescheid entsprechend eingestuft, unabhängig davon ob seine aktuelle wirtschaftliche Situation u.U.  deutlich schlechter ist, als in den vorangegangenen Jahren. Werden dann jedoch auch noch bei der nächsten Beitragsberechnung die sodann per neuem Einkommensteuerbescheid bestätigten Negativeinkünfte bei der Beitragsanpassung nicht entsprechend berücksichtigt,  kann dies für den – ohnehin schon wirtschaftlich angeschlagenen  Unternehmer zur existentiellen Bedrohung werden.  Ein Praxisbeispiel.

Klaus Engelking war bereits im Jahr 2014 mit seinem ersten Fall für den „Werner-Bonhoff-Preis-wider-den-§§-Dschungel“ nominiert. (http://www.werner-bonhoff-stiftung.de/engelking-vs-soka-bau)

Beitragsnachforderungen nach vorläufiger Berechnung

Zur Berechnung der Beiträge für das Jahr 2011 legte Herr Engelking der IKK eine Bestätigung des Finanzamtes vor, dass für das Jahr 2010 mit einem voraussichtlichen Gewinn aus Gewerbebetrieb in Höhe von 17.000 EUR erwartet werde. Daraufhin erfolgte die Beitragsberechnung für das Jahr 2011 mit Bescheid vom 27.10.2010 unter dem Vorbehalt der Nachberechnung nach Vorlage des Einkommensteuerbescheides 2010.

Info: Die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung werden nach den beitragspflichtigen Einnahmen in einem Kalenderjahr berechnet. Dabei ist die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds zu berücksichtigten (§ 223 SGB V).  Die Beitragsbemessung  von freiwillig Versicherten wird gem. § 240 SGB V seit 2009 einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen in die „Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler“ einheitlich geregelt. Danach sind die Voraussetzungen für die Beitragsbemessung vom Mitglied nachzuweisen. Als Nachweis der beitragspflichtigen Einnahmen für das Kalenderjahr gilt der jeweilige Einkommensteuerbescheid.

Den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2010 reichte Herr Engelking Anfang Januar 2014 bei der IKK ein. Weiterhin übersandte er auch den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2011 am 06.01.2014. Aus dem Einkommensteuerbescheid 2010 ergaben sich deutliche höhere Einkünfte für das Jahr 2010 als bei der Berechnung damals angenommen. Die IKK berechnete daraufhin mit Bescheid vom 10.02.2014 die Beiträge für den Zeitraum 01.01.-31.12.2011 mit einem monatlichen Beitrag zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung  in Höhe von insgesamt 625,55 EUR, sowie für den Zeitraum 01.01.-31.08.2012 mit einem monatlichen Beitrag in Höhe von insgesamt 644,52 EUR neu. (Anm.: ab dem 01.09.2012 erfolgte keine Beitragsberechnung unter Vorbehalt mehr, daher stellte die IKK ab diesem Zeitpunkt keine Neuberechnung an.)

Aufgrund der von Herrn Engelking zu niedrig gezahlten Beiträge wies sein Beitragskonto nach Mitteilung der IKK einen Rückstand in Höhe von 6.824,95 EUR auf, der von Herrn Engelking mit der nächsten monatlichen Beitragszahlung (somit zum 15.02.2014) gezahlt werden sollte.

Wirtschaftliche Zahlungsunfähigkeit aufgrund vorangegangener Verlustjahre

Herr Engelking war wirtschaftlich nicht in der Lage, die Beitragsnachzahlungen zu leisten und teilte mit Schreiben vom 03.04.2014 der IKK mit, dass die Steuererklärung für das Jahr 2012 einen hohen Verlust für seinen Gewerbebetrieb bestätigen werde, was aller Voraussicht nach auch im Geschäftsjahr 2013 so sein wird. Er bot zum Beweis die Entbindung seines Steuerberaters von dessen Verschwiegenheitsverpflichtung an und bat die IKK, die deutlich geringeren Gewinne aus den Jahren 2012 und 2013 bei der Nachforderung für die Jahre 2010 und 2011 entsprechend zu berücksichtigen. In Anbetracht der Tatsache, dass aufgrund zu erwartenden Einkommensteuerbescheide 2012 und 2013 mit deutlich geringeren Beiträgen zu rechnen sein würde, bat er die IKK zur Vermeidung einer Überzahlung einer entsprechenden „Aufrechnung“ zuzustimmen.

Leider konnte Herr Engelking mit dieser Bitte gegenüber der IKK nicht durchdringen. Sein Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.02.2014 wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Ende Oktober 2014, der Beitragsrückstand betrug inzwischen aufgrund von Säumniszuschlägen und Mahnkosten knapp 12.000 EUR, erwirkte die IKK eine Pfändungsverfügung gegen Herrn Engelking. In der Zeit bis April 2015 pfändete die IKK insgesamt gut 7.600 EUR in drei Teilbeträgen.

Negativeinkünfte blieben bei neuer Beitragsberechnung unberücksichtigt

Anfang November 2014 reichte Herr Engelking seinen Einkommensteuerbescheid für das Kalenderjahr 2012 bei der IKK ein. Dieser wies Negativeinkünfte aus Gewerbebetrieb  in Höhe von -56.585,00 EUR und Positiveinkünfte aus selbständiger Tätigkeit in Höhe von 35.358,00 EUR auf. Mit Schreiben vom 13.11.2014 teilte die IKK Herrn Engelking mit, dass unter Berücksichtigung der gemäß  Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen Einnahmen als monatliche Berechnungsgrundlage 2.946,50 EUR ermittelt wurde und dies ab dem 01.12.2014 einen monatlichen Beitrag zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung  in Höhe von insgesamt 499,43 EUR ergäbe. Zu diesem Zeitpunkt wies das Beitragskonto von Herrn Engelking einen aufgrund der angelaufenen Mahnkosten und Säumniszuschlägen Rückstand in Höhe von 9.557,18 EUR auf.

Aufgrund Zahlungsrückstandes ruhen Versicherungsleistungen

Mit Schreiben vom 21.02.2014 teilte die IKK Herrn Engelking den aktuellen Beitragsrückstand mit, und wies darauf hin, dass die Leistungsansprüche aus dem Versicherungsverhältnis solange ruhen, bis der Rückstand ausgeglichen ist:

16 SGB V: Ruhen des Anspruchs
Abs.3a Satz 2 SGB: (…) ausgenommen sind Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten nach den §§ 25 und 26 und Leistungen, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände (…) erforderlich sind; das Ruhen endet, wenn alle rückständigen und die auf die Zeit des Ruhens entfallenden Beitragsanteile gezahlt sind.(…)

Auf die Nennung der entsprechenden Rechtsgrundlage bzw. einer erklärenden Konkretisierung wurde von Seiten der IKK in dem Schreiben vom 21.02.2014 verzichtet. Herr Engelking teilt hierzu mit, dass auch kein Merkblatt o.ä. hierzu dem Schreiben belegen habe. Dies führte dazu, dass Herr Engelking davon ausging, dass ihm aufgrund des Zahlungsrückstandes keinerlei Leistungen für ärztliche Behandlungen zur Verfügung stünden. Sein Unverständnis hierüber äußerte er auch gegenüber der IKK mit E-Mail vom 13.11.2014, da er zu diesem Zeitpunkt aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes auf ärztliche Behandlungen angewiesen war. Das offensichtliche, für die IKK bereits ab diesem Zeitpunkt bestandene Mißverständnis hinsichtlich der Bedeutung des Ruhens der Versicherungsleistungen behob nach Angaben von Herr Engelking die IKK erst mit Schreiben vom 23.04.2015, als der IKK-Regionalgeschäftsführer Herrn Engelking darüber aufklärte, dass er gemäß § 16 Abs.3a SGB V trotz des angeordneten Ruhens ärztliche Behandlungen bei akuter Erkrankungen in Anspruch nehmen könne. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch nach Angaben von Herrn Engelking bereits eine starke gesundheitliche Beeinträchtigung infolge nicht in Anspruch genommener Behandlung eingetreten war. (Anm.: Herr Engelking konnte aus wirtschaftlichen Gründen die Arztkosten nicht selbst decken und verzichtete daher auf eine Behandlung)

Widerspruch wegen Nichtberücksichtigung der Negativeinkünfte ohne Erfolg

Gegen den Bescheid vom 13.11.2014 legte Herr Engelking Widerspruch ein. In seinem Widerspruch fordert Herr Engelking die Berücksichtigung der Negativeinkünfte, sowie die (teilweise) Aufrechnung zwischen dem sich daraus ergebenen Rückerstattungsanspruch wegen Überzahlung und der Nachzahlungsforderung der IKK für die Jahre 2010 und 2011.  Bezüglich seines verfolgten Anspruches auf Nachberechnung beruft sich Herr Engelking insbesondere auf das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 27.03.2002 (Az. L 15 KR 286/01), in dem das Gericht von einer den Krankenkassen obliegenden Amtsermittlungspflicht hinsichtlich der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ihrer Versicherten und der Rückerstattung ggf. zu viel gezahlter Beiträge für die Vergangenheit sprach.

Der Widerspruch wurde von der IKK am 16.03.2015 als unbegründet zurückgewiesen. Die IKK beruft sich bei ihrer Entscheidung (weiterhin) auf § 240 Abs. 4 SGB V und die Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler und führte zur Begründung aus, dass sie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Ermittlung des Einkommens auf die Einkommensteuerbescheide zurückgreifen müsse.  Die tatsächlichen Einnahmen könnten nach der gesetzlichen Regelung naturgemäß  nur zeitlich versetzt berücksichtigt werden.

240 Abs. 4 Satz 6 SGB V (Fassung bis 31.12.2017)
„Veränderungen der Beitragsbemessung auf Grund eines vom Versicherten geführten Nachweises nach Satz 2 können nur zum ersten Tag des auf die Vorlage dieses Nachweises folgenden Monats wirksam werden.“

Aus § 7 Abs.7 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler (BeiVerfGS) ergebe sich, „dass das über den letzten Einkommensteuerbescheid festgesetzte Arbeitseinkommen bis zur Erteilung des nächsten Einkommensteuerbescheides maßgebend bleibt. Der neue Einkommensteuerbescheid ist für die Beitragsbemessung ab Beginn des auf die Ausfertigung folgenden Monats heranzuziehen. Legt das Mitglied den Einkommensteuerbescheid später vor und ergäbe sich eine günstigere Beitragsbemessung, sind die Verhältnisse erst ab Beginn des auf die Vorlage dieses Einkommensteuerbescheids folgenden Monats zu berücksichtigen“.

Zur zeitversetzten Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse beruft sich die IKK u.a. auf eine Entscheidung des BSG vom 22.03.2006, Az. B 12 KR 14/05 R und zitiert:

Die damit lediglich zeitversetzt erfolgende Berücksichtigung der tatsächlichen Einnahmen der hauptberuflich Selbständigen ist nicht zu beanstanden. Auf einen längeren Zeitraum gesehen wird die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zutreffend berücksichtigt, denn es erfolgt ein Ausgleich der wechselnden Einnahmen, indem sowohl die nachgewiesene Erhöhung der Einnahmen als auch deren nachgewiesene Verringerung für die zukünftige Beitragsfestsetzung jeweils bis zum Nachweis einer Änderung berücksichtigt wird.“

Nach Ansicht der IKK ergab sich aus dem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2012 eine monatliche Bemessungsgrundlage von 2.946,50 EUR, bei der zu berücksichtigen war, dass nach der Rechtsprechung des BSG ein vertikaler Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten (hier: Einkünfte aus Gewerbebetrieb und und selbständiger Tätigkeit)nicht vorgesehen sei.

Sozialgericht weist Klage als unbegründet ab

Am 20.04.2015 reichte Herr Engelking sodann Klage am Sozialgericht Detmold ein und verfolgte hiermit die einkommensgerechte Neuberechnung seiner Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab dem 01.01.2012 und die entsprechende Erstattung zu viel gezahlter Beiträge. Hierbei forderte er, dass die Beiträge anhand der jeweils tatsächlich erzielten Einkünfte erhoben werden müssen. Außerdem müssten Negativ- und Positiveinkünfte miteinander verrechnet werden.

Am 12.02.2016 wurde seine Klage vom Sozialgericht Detmold als unbegründet abgewiesen, Herr Engelking habe keinen Anspruch auf Neuberechnung der Beiträge seit dem 01.01.2012 und damit auch keinen Anspruch auf Erstattung zu viel gezahlter Beiträge. Die bisherige Praxis der Beitragsberechnung ab Vorlage des neuen Einkommensteuerbescheides entspräche der gesetzlichen Grundlage. Dass die jeweilige Beitragsfestsetzung der Entwicklung der Einnahmen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung Rechnung trägt, müsse hingenommen werden. Hier führt das Gericht an, dass eine stetige nachträgliche Korrekturmöglichkeit dazu führen würde, dass die Beiträge grundsätzlich nur vorläufig festgesetzt werden und im nachhinein korrigiert werden müssten, was neben einer Verdoppelung des Verwaltungsaufwandes auch zu einer erheblichen Unsicherheit auf seiten der Krankenkasse hinsichtlich ihrer Einnahmen und auf Seiten der Versicherten hinsichtlich der geschuldeten Beiträge führen würde.

Weiterhin führt das Gericht aus, dass eine Verrechnung von Positiv- und Negativeinkünften einen unzulässigen vertikalen Verlustausgleich verschiedener Einkommensarten darstellen und dies bereits in einigen Entscheidungen des Bundessozialgerichts als eine Privilegierung von freiwillig selbständig Versicherten gegenüber versicherungspflichtig Beschäftigten darstellen würde.

Auch Berufung scheitert

Gegen das Urteil des Sozialgericht Detmold legte Herr Engelking Berufung zum Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ein. Auch wenn er vortrug, dass die derzeitige gesetzlichen Regelungen der Beitragsbemessung den Interessen von Selbständigen mit verringerten Einkünften nicht entspricht, teilte das LSG mit, dass es der geltenden Rechtsprechung folgen werde, woraufhin Herr Engelking – zur Vermeidung von zusätzlichen Verfahrenskosten – seine Berufung in der mündlichen Verhandlung vom 21.10.2016 zurücknahm.

Zulässigen horizontalen Ausgleich übersehen?

Gemäß § 240 Abs.1 Satz 2 SGB V ist sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt. Gemäß § 240 Abs.2 Satz 1 SGB V  sind bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mindestens die Einnahmen des freiwilligen Mitglieds zu berücksichtigen, die bei einem vergleichbaren versicherungspflichtig Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind.

Der Einkommensteuerbescheid 2012 wies für Herrn Engelking für Einnahmen aus Gewerbebetrieb einen Negativbetrag aus, der den Betrag aus Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit überstiegen. Eine Verrechnung lehnte die IKK und auch das SG Detmold unter Berufung auf  den unzulässigen vertikalen Ausgleich zwischen zwei Einkommensarten ab. Fraglich könnte jedoch sein, ob hier diese überhaupt vorliegen. Denn in seiner Entscheidung vom 23.09.1999 führte das Bundessozialgericht aus:  „Zum Arbeitseinkommen aus selbständiger Tätigkeit i.S. des Sozialversicherungsrechts rechnen allerdings auch Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 Nr 1 EStG)“. (Az. B 12 KR 12/98 R , RdNr.12).  

Die Verluste aus Gewerbebetrieb wären somit auf dem Wege des zulässigen horizontalen Ausgleichs abziehfähig, da Einkünfte aus Gewerbe gleichstünden mit ebenfalls zu berücksichtigten Einkünften aus selbständiger Tätigkeit.  Wäre dieser Abzug bei Herrn Engelking erfolgt, hätte die IKK bei Zugrundelegung des Einkommensteuerbescheides 2012 bei der Beitragsbemessung einen Negativbetrag in Höhe von -21.227,- EUR – bzw. Null – ermitteln und ggf. die Prüfung eines Härtefalls  in Betracht ziehen müssen.

Ausblick: Neues Beitragsverfahren für Selbständige ab 01.01.2018!

Ein Teil der Problematik, die bei Herrn Engelking zutage trat, nämlich die fehlende Möglichkeit der Erstattung von zu viel gezahlten Beiträgen und die damit verbundene wirtschaftliche Belastung der freiwillig versicherten Selbständigen als Folge, scheint bei weitem kein Einzelfall zu sein. Das Problem wurde auf politischer Ebene erkannt und im Jahr 2017 im Bundestag beraten. Obwohl das Sozialgericht Detmold in seinem Urteil noch ausführlich darlegte, dass eine vorläufige Beitragsfestsetzung und endgültige Festsetzung nach Vorlage des Einkommensteuerbescheides inkl. anschließender Nachforderung von zu wenig gezahlten Beiträgen oder auch anschließender Rückerstattung von zu viel gezahlten Beiträgen (!) vermieden werden müsse, ist genau dies per Gesetzesänderung am 04.04.2017 vom Bundestag mit Inkrafttreten zum 01.01.2018 veranlasst worden. So wurde durch Artikel 1 Nr. 16b des Gesetzes zur Änderung des SGB V in § 240 Abs.4 der bisherige – und im Fall von Herrn Engelking bedeutende Satz 6 „Veränderungen der Beitragsbemessung auf Grund eines vom Versicherten geführten Nachweises (…) können nur zum ersten Tag des auf die Vorlage dieses Nachweises folgenden Monats wirksam werden.“ gestrichen.  Hinzugefügt wurde nun: „Die durch den  Spitzenverband Bund der Krankenkassen auf Grundlage der Sätze 3 und 4 bestimmten Voraussetzungen für eine Beitragsberechnung sind bis zur endgültigen Beitragsfestsetzung nach Absatz 4a Satz 3 durch das Mitglied nachzuweisen.“
(Quelle: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017 Teil I Nr.19 vom 10.04.2017, Seite 785)

Auch die IKK informierte Herrn Engelking durch ein Hinweisschreiben per 28.12.2017 darüber, dass zukünftig – unter Berücksichtigung der gesetzlichen Mindestbemessungsgrenzen – eine Beitragsrückerstattung erfolgt, sofern die tatsächlichen Einkünfte unter dem für den vorläufig festgesetzten Beitrag herangezogenen Einkommen lagen. Sollte der Selbständige im Jahr 2018 geringere Einkünfte als 2.283,75 EUR pro Monat (bisheriges Mindesteinkommen) haben, könne weiterhin eine Beitragsermäßigung geprüft werden, um Beitragsschulden entgegen zu wirken.

Aufgrund des Stichtages 01.01.2018 kann die Regelung nicht für Bescheide angewandt werden, die zeitlich vor diesem Datum ergangen sind, sodass die Gesetzesnovelle im Fall von Herrn Engelking leider keine Änderung bringt, jedoch zumindest einen positiven Ausblick für die zukünftige Beitragsberechnung unter Berücksichtigung der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten.

Stand der Falldarstellung: 30.01.2018