Nominiert 2018:Thomas Neumann,
My Virtual Future GmbH, Augsburg, Bayern
vs. Stadt Augsburg (Baureferat)

Virtuelle Dienstleistungen als kerntypische Vergnügungsstätte? – Langwieriger Streit um baurechtliche Kategorisierung gefährdet Existenz des Unternehmens

Thomas Neumann ist geschäftsführender Gesellschafter der My Virtual Future GmbH und bietet damit verschiedene Dienstleistungen unter Verwendung von Virtual Reality Technik* (kurz: VR-Technik) an. Nachdem er in Augsburg für sein Unternehmen geeignete Gewerberäume angemietet hatte, die zuvor als Schönheitssalon und Solarium genutzt wurden, stellte er beim zuständigen Bauordnungsamt einen Antrag auf Nutzungsänderung, nicht ahnend, dass das Genehmigungsverfahren letztlich fast ein Jahr dauern würde. Der Fall zeigt das Problem der Anwendung bestehender Gesetze auf Unternehmen mit neuen Technologien und die hieraus resultierenden Folgen für den betroffenen Unternehmer.

Herr Neumann wurde mit dem hier dargestellten Fall für den Werner-Bonhoff-Preis-wider-den-§§-Dschungel 2018 nominiert.

Die von Herrn Neumann angebotenen Leistungen umfassen die Vermietung von technisch ausgestatteter Räumen an Firmen und Institutionen für Schulungsmaßnahmen, Vermietung der Räume inkl. Equipment an Privatpersonen, Kursangebote im Bereich virtuellen Welten bauen & programmieren, Umsetzung von 3D-Drucken mittels Personenscanner sowie den Verkauf von Hardware.

Die VR-Technik kann in vielseitigem, nahezu unbegrenztem Bereich genutzt werden: ob nun von Immobilienfirmen und Maklern, um die bestehende oder sich noch in der Planung befindliche Häuser besichtigen und potentiellen Kunden präsentieren zu können, von  Fahrschülern im Fahrsimulator, Kulturinteressierten zur Besichtigung des Kölner Doms und diversen anderen Sehenswürdigkeiten und Orten auf der ganzen Welt. In der von Herrn Neumann angestrebten Nutzung der Räume ist ein Angebot von gewaltverherrlichenden oder pornographischen Filmen an Privatkunden nicht vorgesehen. Vielmehr liegt das Hauptaugenmerk auf Geschäftskunden, denen Angebote im Bereich Schulungsmaßnahmen, Fortbildung oder auch Teambuilding unterbreitet werden, sowie das Etablieren neuer Arbeits- und Präsentationstechniken, die in vielen Branchen einen Vorteil bieten.

Digitale Bildung als Zukunft

Herr Neumann sieht in seinem Konzept, das bereits in Nürnberg und Potsdam erfolgreich umgesetzt und angenommen wurde, eine große Chance in vielen Unternehmensbereichen mit der innovativen 3D-Technik Aufgaben zu visualisieren und Prozesse zu verbessern. Bestätigt in seiner Ansicht, dass die digitale Technik heutzutage weit mehr ist als „Freizeitvergnügen“ sieht er sich unter anderem durch die Bundeskanzlerin, die bei der Eröffnung der diesjährigen Computerspielmesse „gamescom“ im August 2017 betonte „Computer- und Videospiele sind als Kulturgut, als Innovationsmotor und als Wirtschaftsfaktor von allergrößter Bedeutung“ und ergänzte, dass die Bunderegierung deshalb über zusätzliche Fördermöglichkeiten für die Branche sprechen werde. (Quelle: www.bundesregierung.de, Artikel vom 22.08.2017). Auch der Deutsche Kulturrat e.V., der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, erklärte bereits vor zehn Jahren Computerspiele zum Kulturgut. (Quelle: https://www.kulturrat.de/thema/kulturgut-computerspiele/)

Nutzungsänderung: Vom Schönheitssalon zur VR-Arcade

Im Augsburger Stadtteil Göggingen hat Herr Neumann im Januar 2017 Gewerberäume mit einer Gesamtgröße von 248 qm angemietet. Da die Gewerberäume zuvor als Schönheitszentrum inkl. Sonnenstudio genutzt wurden, stellte Herr Neumann beim Bauordnungsamt Augsburg am 10.01.2017 einen Antrag auf Nutzungsänderung. Die Gewerberäume befinden sich – laut Bebauungsplan – in einem sog. Mischgebiet gem. § 6 Baunutzungsverordnung (BauNVO), in dem neben dem Wohnen auch die Unterbringung von Gewerbebetrieben zulässig sind, sofern diese das Wohnen nicht wesentlich stören.

Da bei der Nutzung der VR-Technik mangels Soundanlage mit Subwoofern keine besondere Lärmbelästigung entsteht, den Kunden auch keine alkoholischen Getränke oder Speisen angeboten werden, sich in unmittelbarer Nachbarschaft sogar gut frequentierte Gewerbe wie ein Pizzaservice, ein Dönerimbiss und ein Eiscafé befinden und Herr Neumann mit seinen Öffnungszeiten von 13 Uhr bis 22 Uhr auch die Nachtruhe der Anwohner gewährleistet und wegen fester Terminbuchung nur geringe Laufkundschaft zu erwarten wäre, hat er nicht damit gerechnet, dass sein Antrag auf Nutzungsänderung auf Widerstände stoßen würde, die für sein Unternehmen gar zu einer existentiellen Bedrohung hätte werden können.

Zwei Monate lang wurden die Räumlichkeiten von Herrn Neumann aufwendig und kostenintensiv (100.000 EUR Projektkosten insgesamt) umgebaut. Es entstanden neben insgesamt 7 separaten Übungsräumen zur Nutzung der VR-Technik ein Shop zum Verkauf der Hardware, ein Personal- und Pausenraum, ein Warteraum, WC‘s, Büroraum, Lager-/Abstell- und Verkehrsflächen.

Bauordnungsamt kündigt Ablehnung an

Herr Neumann, der sich nach drei Monaten erfolglosen Verhandlungen mit dem Bauordnungsamt sodann von einem Rechtsanwalt vertreten ließ, sah in der beantragten Nutzung bauordnungsrechtlich eine Mischung aus einer Anlage für kulturelle Zwecke (insbes. virtuelle Museen, Reisen oder Kunstprogramme) und einen nicht wesentlich störenden Gewerbebetrieb i.S.d. § 6 Abs.2 Nr.4 BauNVO, der in Mischgebieten generell zulässig ist.

§ 6 Bau NVO: Mischgebiete

    • (1) Mischgebiete dienen dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören.
    • (2) Zulässig sind
      1. (…)
      2. sonstige Gewerbebetriebe, (…)
      3. Vergnügungsstätten im Sinne des § 4a Absatz 3 Nummer 2 in den Teilen des Gebiets, die überwiegend durch gewerbliche Nutzungen geprägt sind.

§ 4 a Abs. 3 Nr.2 Bau NVO: Ausnahmsweise können zugelassen werden

(…) 2. Vergnügungsstätten, soweit sie nicht wegen ihrer Zweckbestimmung oder ihres Umfangs nur in Kerngebieten allgemein zulässig sind, (…)

Das Bauordnungsamt der Stadt Augsburg hingegen sah in der Nutzung eine kerngebietstypische Vergnügungsstätte und das Mischgebiet, in dem sich die Gewerberäume befinden (an der Hauptstraße des Stadtteils gelegen) als wohngeprägt.

Info: Unter dem Begriff „Vergnügungsstätten“ sind gewerbliche Nutzungsarten zu verstehen, die sich in unterschiedlicher Ausprägung (wie Amüsierbetriebe, Diskotheken, Spielhallen, Wettbüros) unter Ansprache oder Ausnutzung des Sexual-, Spiel- und/oder Geselligkeitstriebs einer bestimmten gewinnbringenden FreizeitUnterhaltung widmen (so u.a. die Ausführungen in Fickert/Fieseler, Rn. 22 zu § 4a BauNVO).

Der Grund für die Einstufung des Gewerbes von Herrn Neumann als kerngebietstypische Vergnügungsstätte von Seiten des Bauordnungsamtes war folgender: Das Angebot von Herrn Neumann ist vordergründig für Geschäftskunden, aber auch für Privatkunden konzipiert. Angedacht ist hier ein Verhältnis von 70 : 30. Genau hier sah die Stadt das Problem. Als wesentlich für die Einordnung der Nutzung als Vergnügungsstätte sah die Stadt, dass neben der Business-to-Business Anwendung in nicht unerheblichem Umfang auch Privatkunden VR-Anwendungen zu Spiel- und Vergnügungszwecken zur Verfügung stehen sollten. Ein unerheblicher Umfang läge nach Ansicht des Bauordnungsamtes bei einer Nutzung durch Privatkunden von nicht mehr als 10 % vor.

Die von Herrn Neumann geplante Nutzung durch Privatkunden (30%) stufte das Bauordnungsamt als Hauptnutzung und nicht als untergeordnete Nebennutzung ein. Und da die private Nutzung zu Unterhaltungs- und Freizeitzwecken erfolgt, reichte dies zur Qualifizierung als Vergnügungsstätte. Aufgrund der Nutzfläche von über 100 qm wurde die Vergnügungsstätte weiterhin vom Bauordnungsamt als „kerngebietstypisch“ kategorisiert, die in einem wohngeprägten Mischgebiet nicht zulässig ist. (vgl. §§ 4a Abs.3 Nr.2 , 7 BauNVO)

In der Zeit von März bis September 2017 wurde der Antrag auf Nutzungsänderung insgesamt siebenmal umgeschrieben, drei Versionen fertigte der von Herrn Neumann beauftragte Rechtsanwalt an. Doch die zuständige Behörde beharrte weiterhin darauf, dass wegen Überschreitung der 100qm- Grenze eine Genehmigung nicht möglich wäre.

Lösungsvorschläge vom Amt für Unternehmer schwer praktikabel

Das fehlende Verständnis für das Unternehmen und dessen Konzeption wurde in den vom Bauordnungsamt im Juli 2017 unterbreiteten „Lösungsvorschlägen“ deutlich. Um die Nutzung durch Privatkunden als „untergeordnet“ (maximaler Anteil von 10 %) festzusetzen, wurde Herrn Neumann offeriert, die vorhandenen sieben VR-Räume einer konkreten Nutzung zuzuweisen. Nach dieser Methode hätte Herr Neumann maximal einen Raum der Nutzung durch Privatkunden fest zuweisen müssen. Alternativ dazu schlug das Bauordnungsamt vor, dass Herr Neumann im Betriebskonzept das Nutzungsverhältnis 90 : 10 (Geschäftskunden – Privatkunden) konkret festschreibt und dessen Einhaltung durch das Führen eines „Betriebstagebuches“, ähnlich eines Fahrtenbuches, nachweist. Abgesehen von dem bürokratischen Aufwand war auch dies keine für Herrn Neumann praktikable Option. Die dritte Option war letztendlich die Reduzierung der Nutzfläche auf unter 100 qm. Hier bestand das Amt jedoch darauf, dass zur als Vergnügungsstätte dazugehörenden Nutzfläche neben der VR-Räume auch noch der Empfangs- und der Wartebereich addiert werden.

Aufgrund der inzwischen vorangeschrittenen Zeit, mittlerweile war seit der Einreichung des ersten Antrages auf Nutzungsänderung acht Monate vergangen, in denen Herr Neumann sein Geschäft nicht eröffnen und keine Umsätze erzielen konnte, bestand eine existentielle Gefahr für das Unternehmen, so dass Herr Neumann aus der Not heraus über eine Untervermietung der Räume und konzeptionell andere Nutzung nachdachte. Die für ihn nicht einkalkulierte Verzögerung im Genehmigungsverfahren hatte nach seinen Angaben bereits bis zum September zu einem Verlust in Höhe von insgesamt  60.000 EUR geführt.

Anfang September offerierte Herr Neumann dem Bauordnungsamt den Vorschlag, zwei der VR Räume allein dem Geschäftskundenbetrieb zu widmen. Dadurch würde die Fläche, die grundsätzlich dem „Spielbetrieb“ von Privatkunden zur Verfügung stehen würde, mit anteiliger Anrechnung von Empfangs- und Warteraum eine Gesamtfläche von 96,7 qm (somit unter 100qm), als

Vergnügungsstätte genutzt werden. Doch auch hiermit erklärte sich das Amt nicht einverstanden, da es den Empfangs- und Wartebereich in voller Höhe als Nutzfläche der Vergnügungsstätte und damit die 100-qm-Grenze als überschritten ansah.

Keine ausreichende Würdigung des Einzelfalls?

Bei Betrachtung des Falls stellt sich die Frage, ob die Interessen des Bauordnungsamtes und die des Unternehmens nicht besser und schneller in Einklang gebracht hätten werden können.

Das Interesse und die Pflicht des Bauamtes, Gewerbebetriebe, die den Gebietscharakter durch Emissionen stören und die schutzwürdigen Interessen der Anwohner gefährden oder gar verletzen zu untersagen, liegt auf der Hand. Herr Neumann hingegen hat als Unternehmer ein Interesse daran, sein Gewerbe auszuüben und sein Geschäft, insbesondere nachdem er viel Geld in den Umbau investierte, zeitnah zu eröffnen.

Bereits ab dem ersten gestellten Antrag auf Nutzungsänderung war im beigefügten, ausführlichen Konzept offensichtlich, dass Herr Neumann den Schwerpunkt auf die Gewinnung von Geschäftskunden gesetzt hat. Die Schaffung eines Gewerbes, das vordergründig Freizeit- und Unterhaltungszwecken von Privatkunden dient, war nicht angedacht. Allein aufgrund der Tatsache, dass er sich im Verhältnis von 30 : 70 die Bedienung der Nachfrage von Privatkunden offenhielt, den Hauptzweck als kerntypische Vergnügungsstätte festzulegen, vermag etwas „überdehnt“ erscheinen.
Doch selbst wenn man den „Spielbetrieb“ als nicht untergeordneten Zweck einstufen möchte, erscheint doch das Beharren des Bauordnungsamtes auf der Einhaltung des 100 qm-Schwellwertes unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls als zweifelhaft.

Anmerkung: Der in der Rechtsprechung herausgearbeitete Schwellenwert von etwa 100 m2 Nutzfläche, ab dem (z.B.) eine Spielhalle als kerngebietstypische Vergnügungsstätte einzustufen ist, stellt keine starre Grenze, sondern nur einen Anhaltswert dar. Maßgeblich ist die auf der Einschätzung der tatsächlichen örtlichen Situation beruhende Beurteilung. (Quelle: VGH-Baden-Württemberg – Az. 8 S 1571/02)

Denn unter Beachtung der Umstände hätte in der Beurteilung wohl berücksichtigt werden müssen, dass mit der beabsichtigten Nutzung keinerlei mit Vergnügungsstätten üblicherweise einhergehende – abstrakt störende – Begleiterscheinungen wie Lärmemissionen, die Nachtruhe störende Öffnungszeiten und/ oder hoher An- und Abfahrtverkehr aufgrund des Kundenaufkommens verbunden wären.
Es darf somit die Frage gestellt werden, ob man hier nach Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Sicherstellung der Interessen der Anwohner und Aspekte der Erhaltung des Gebietscharakters zum Beispiel durch bestimmter Auflagen hätte erreichen können.

Nach Medienberichterstattung folgt die Genehmigung

Am 20.12.2017 erschien in der Augsburger Allgemeinen Zeitung der Artikel „Hürden für die virtuelle Realität“, in dem über das monatelange Ringen von Herrn Neumann um die Genehmigung der Nutzungsänderung berichtet wurde.  Zwei Tage später, am 22.12.2017 erließ das Bauordnungsamt den Bescheid, in dem die Nutzungsänderung genehmigt wurde, wenn auch zu für Herrn Neumann einschränkenden Konditionen: Die Nutzfläche musste er weiter verkleinern, einen VR-Raum, den kompletten Warteraum und den Shop mit einer Gesamtfläche von 54,60 qm zu Abstellfläche umschreiben. Der gesamte Empfangsbereich und sechs VR-Räume mit einer Gesamtfläche von 99,30 qm wurden ihm zur Nutzung genehmigt.

Noch am 23.12.2017 eröffnete Herr Neumann seinen – seit Januar 2017 fertig umgebauten – Laden.

Auch wenn die Genehmigung der Nutzungsänderung der Gewerberäume mit einigen Strapazen, nicht unerheblichen finanziellen Einbußen und bedauerlicher Weise im Ergebnis erfolglosen Einigungsversuchen mit dem Bauamt verbunden waren, hofft Herr Neumann, dass sich sein Durchhaltevermögen gelohnt hat und er nun mit seinem Unternehmen erfolgreich starten kann.

Der Fall von Herrn Neumann verdeutlicht die möglichen Folgen, wenn althergebrachte bauordnungsrechtliche Vorschriften auf neuartige Vorhaben anzuwenden sind. Denn erkennbar war, dass es sich tatsächlich nicht um eine Vergnügungsstätte im herkömmlichen Sinn (allein zu Unterhaltungszwecken wie größere Kinos, Spielhallen etc.) handelte und daher auch andere Beurteilungsmaßstäbe hätten einbezogen werden können.

(Stand der Falldarstellung: 02/2018)

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