Gesetzlicher Nachteilsausgleich für Schwerbehinderte – Unternehmer setzt sich erfolgreich gegen Entscheidungspraxis von Integrationsamt zur Wehr und erkämpft Grundsatzurteil vor dem Bundesverwaltungsgericht
Sascha Lang betreibt in Bad Segeberg eine Event- und Bookingagentur. Da Herr Lang blind ist, stellte er beim Integrationsamt einen Antrag um für bestimmte Tätigkeiten in seinem Beruf eine Unterstützung gewährt zu bekommen und stößt dabei auf erhebliche Widerstände:Steht die gesetzlich geregelte Unterstützung nur Schwerbehinderten zu, die arbeitslos oder von dieser bedroht sind? Vier Jahre lang kämpfte Herr Lang für eine richtige Interpretation und Anwendung des Gesetzes – bis ihm das Bundesverwaltungsgericht schließlich Recht gab. Hierdurch hat er ein Urteil erwirkt, welches für zahlreiche vergleichbare Fälle die Entscheidungspraxis der zuständigen Behörden massiv beeinflusst und damit einen beachtenswerten Beitrag für das Gemeinwohl errungen.
Sascha Lang ist Unternehmer aus Schleswig-Holstein. Er betreibt seit dem Jahr 2008 die Agentur Red Lion Entertainment. Mit dieser Booking- und Eventagentur wird sowohl das Management für einige Künstler übernommen aber auch für namhafte nationale und z.T. internationale Künstler Veranstaltungen geplant, durchgeführt und/oder die Vermittlung übernommen. Herr Lang steht seit 2000 als Beamter im Dienst des luxemburgischen Staates. Bis 2013 reduzierte er schrittweise diese Tätigkeit auf 50 %, um daneben die von ihm gegründete Eventfirma zu betreiben. Aufgrund seiner Schwerbehinderung von 100% (als Kleinkind infolge des Grünen Stars erblindet) und des Wachstums seines Unternehmens sowie den damit verbundenen verschiedenen Aufgaben, beantragte er im Jahr 2012 beim Integrationsamt Trier (zum damaligen Ztp. sein Wohnort und Sitz der Firma) eine notwendige Arbeitsassistenz zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben für 26 Stunden im Monat (Anm.: aufgrund seiner Pendlertätigkeit zwischen Luxemburg und damals Trier, benötigte er alle zwei Wochen die Assistenz für 13 Std./Woche, d.h. insgesamt 26 Std./Monat).
Info: Rechtsgrundlage für die von Herrn Lang beantragte Hilfe ist § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 5 SGB IX n.F., nach der schwerbehinderte Menschen einen Anspruch auf Übernahme der Kosten notwendiger Arbeitsassistenz durch die Integrationsämter haben und zwar als Teil der „begleitenden Hilfe im Arbeitsleben“. Es geht dabei um eine Geldleistung, nicht um eine vom öffentlichen Leistungsträger zu organisierende Sachleistung.
§ 102 SGB IX Aufgaben des Integrationsamtes
(1) Das Integrationsamt hat folgende Aufgaben:
1. die Erhebung und Verwendung der Ausgleichsabgabe,
2. den Kündigungsschutz,
3. die begleitende Hilfe im Arbeitsleben,
4. die zeitweilige Entziehung der besonderen Hilfen für schwerbehinderte Menschen (§ 117).
Die Integrationsämter werden so ausgestattet, dass sie ihre Aufgaben umfassend und qualifiziert erfüllen können. Hierfür wird besonders geschultes Personal mit Fachkenntnissen des Schwerbehindertenrechts eingesetzt.
(2) (…)
(3) (…)
(3a)(…)
(4) Schwerbehinderte Menschen haben im Rahmen der Zuständigkeit des Integrationsamtes für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben aus den ihm aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung stehenden Mitteln Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz.
(…)
Nach seiner Antragstellung beim Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung mit Sitz in Trier (Integrationsamt) wurde er von dort zu einem persönlichen Gespräch eingeladen, in dem er sein Anliegend ergänzend zu seinem förmlich gestellten Antrag vortrug. Mit Bescheid vom 27. März 2013 bewilligte ihm das Integrationsamt Trier begleitende Hilfe im Arbeitsleben in Form einer notwendigen Arbeitsassistenz gemäß § 102 SGB IX i.V.m. § 17 Ziffer 1a SchwerbehindertenAV. Herr Lang erhielt dazu für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2013 ein persönliches Finanzbudget in Höhe von monatlich 435,- Euro.Die Arbeitsassistenz benötigte Herr Lang insbesondere für folgende Tätigkeiten: Sichtung von Bildmaterial, Fotos, Videos, Begleitung zu Terminen, Check bei Veranstaltungen (ist der Saal in Ordnung, sind Flyer verteilt, hängen die Banner, stimmt im Backstage-Bereich alles, ist das Catering optisch in Ordnung), zeitsparende Bearbeitung von Briefen und Rechnungen, Ausfüllen von Verträgen, Internetrecherchen insbesondere bei nicht barrierefreien Webseiten.
Nach Wohnortwechsel: Integrationsamt Kiel verweigert Bewilligung der Arbeitsassistenz
Im Sommer 2013 zog Herr Lang jedoch von Trier nach Bad Segeberg in Schleswig-Holstein und verlegte zum 01.01.2014 auch den Sitz seines Unternehmens dorthin. Damit wurde das Integrationsamt Kiel für ihn zuständig und er musste seinen Antrag auf Bewilligung der notwendigen Arbeitsassistenz dort erneut stellen. Am 14. Januar 2014 beantragte Herr Lang in Kiel die Kostenübernahme für eine selbst organisierte Arbeitsassistenz gemäß § 102 Abs. 4 SGB IX im selben Umfang wie im Vorjahr in Trier zur Unterstützung seiner selbständigen Erwerbstätigkeit.
Aufgrund des positiven Verlaufs mit dem Integrationsamt in Trier rechnete Herr Lang nicht damit, auf etwaige Widerstände zu stoßen. Zu seiner Überraschung wurde sein Antrag vom Integrationsamt Kiel mit Bescheid vom 13.02.2014 jedoch abgelehnt. Zur Begründung führte das Integrationsamt aus, dass bei der Kostenübernahme im Rahmen der notwendigen Arbeitsassistenz diese dem Abbau und/oder der Verhinderung von Arbeitslosigkeit unter schwerbehinderten Menschen dienen würde. Da Herr Lang aber nicht arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sei, sondern durch seine Berufstätigkeit als Beamter bereits in das Arbeitsleben integriert und sein Lebensunterhalt gesichert sei, könne dem Antrag nicht entsprochen werden. Herr Lang könne mit seiner Tätigkeit als Beamter nämlich auch eine Tätigkeit ausüben, die keine notwendige Arbeitsassistenz benötige.
Herr Lang setzte sich gegen die Entscheidung des Integrationsamtes Kiel zur Wehr und legte am 11.03.2014 Widerspruch ein. In diesem führt er aus, dass es keine Rolle spiele, ob er seine Tätigkeit als Beamter freiwillig reduziert habe und ob diese Reduzierung notwendig im engeren Sinne gewesen sei. Er kritisierte insbesondere, dass dem Integrationsamt kein Ermessen im Hinblick darauf zustünde, ob er sein Lebensunterhalt mit einer anderen Tätigkeit, die keine Arbeitsassistenz benötige, verdienen könnte und dass die Rechtsauslegung und -anwendung des Integrationsamtes Kiel dazu führe, dass er als schwerbehinderter Mensch in Berufsfreiheit beschränkt werde, wenn er bei einer freiwilligen Reduzierung seines Beamtenstatus Assistenzansprüche verwirken würde.
Am 30. Juli 2014 wies der Widerspruchsausschuss beim Integrationsamt im Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein den Widerspruch von Herrn Lang zurück. Er vertrat die Auffassung, dass die Entscheidung des Integrationsamtes nicht zu beanstanden sei und dass eine Förderung aus Mitteln der Ausgleichsabgabe vor dem Hintergrund des dargelegten Sachverhalts ihren Zweck, nämlich der Eingliederung schwerbehinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und der Erleichterung und Sicherung ihrer Teilhabe am Arbeitsleben, verfehlen würde.
Unternehmer kämpft sich durch Instanzen
Gegen den Widerspruchsbescheid erhob Herr Lang am 29. August 2014 Klage zum Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein. In seiner Klage führte er unter anderem aus, dass durch die Regelung des § 102 Abs.4 SGB IX die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben gefördert und gesichert werden solle und der Maßstab einer Erforderlichkeit von Arbeitsassistent für die Lebensunterhaltssicherung zu restriktiv und keinesfalls der Intention des Gesetzgebers entsprechend sei.
Doch auch das Verwaltungsgericht schloss sich der Entscheidung des Integrationsamtes an und wies mit Urteil vom 11.06.2015 (Az.: 15 A 295/14) die Klage ab.
Auch in der Berufungsinstanz unterlag Herr Lang vor dem Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein am 18.02.2016 (Az.: 3 L 17/15). Im Urteil heißt es „(…)Bei allem Verständnis für das klägerische Streben nach einer befriedigenden Berufsausübung, kann es auch mit Blick auf die begrenzte Verfügbarkeit der Mittel aus der Ausgleichsabgabe nicht der Intention des Gesetzgebers entsprochen haben, bereits auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt integrierte schwerbehinderte Menschen Eingliederungshilfe für eine zweite Tätigkeit zu gewähren. Wenn Sinn und Zweck der Vorschriften ist, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen in das Arbeitsleben zu fördern, so kann dies primär nur für solche schwerbehinderten Menschen gelten, die zuvor gar nicht oder nur teilweise eingegliedert sind oder deren Eingliederung nur mit der Hilfe einer Arbeitsassistenz erhalten werden kann.(…) Grundsätzlich kann jeder Beruf bei Vorliegen der Voraussetzungen gefördert werden. Dem Kläger ist die Förderung nicht aufgrund des gewählten Berufs versagt worden, sondern weil er bereits in das Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert ist.(…)“
Beide Gerichte legen somit die notwendige Arbeitsassistenz als begleitende Hilfe im Arbeitsleben als eine Form der Eingliederungshilfe aus, die Herrn Lang aufgrund seiner Teilzeitbeschäftigung als Beamter und damit nicht bestehender oder drohender Arbeitslosigkeit nicht zustünde.
Unternehmer verliert – trotz mittlerweile existentieller Not – nicht den Mut
Trotz der Niederlagen in erster und zweiter Instanz ließ sich Herr Lang jedoch nicht entmutigen und legte im Frühjahr 2016 gegen das Urteil vom OVG Revision zum Bundesverwaltungsgericht ein. Während das Widerspruchs- und Klageverfahren andauerte, wuchs das Unternehmen von Herrn Lang weiter und die steigende Auftragslage erforderte mehr und mehr zeitlichen Aufwand. Um sein Unternehmen am Laufen zu halten und damit am Wettbewerb mit nichtbehinderten Menschen weiter teilnehmen zu können, war Herr Lang gezwungen, die Kosten für die notwendige Assistenz seit 2014 selbst zu tragen. Diese Zusatzausgaben minderten seinen Ertrag nicht unerheblich.
Sein im Januar 2017 gestellter zweiter Antrag auf Bewilligung einer Arbeitsassistenz mit einem Umfang von nunmehr 30 Wochenstunden wurde vom Integrationsamt zurückgestellt, da man die Entscheidung im laufenden Gerichtsverfahren um den ersten Bescheid dem Grunde nach abwarten wollte. Ab dem 01.01.2017 ließ sich Herr Lang von seiner Beschäftigung in Luxemburg vorerst für drei Jahre unbezahlt beurlauben, um sich voll und ganz seinem Unternehmen zu widmen.
Nach vier Jahren Beharrlichkeit: Bundesverwaltungsgericht urteilt richtungsweisend
Am 23.01.2018 erging das richtungsweisende Urteil (Az.: BVerwG 5 C 9.16), welches nicht nur für Herrn Lang, sondern auch für viele andere Selbständige und Unternehmer mit Behinderung einen großen Erfolg darstellt. Durch eine gründliche und gesetzessystematische und -historische Auslegung des § 102 Abs.4 SGB IX trifft das Gericht in seinem sehr lesenswerten Urteil folgende – hier zusammengefasste – Kernaussagen:
a) Die von den Integrationsämter durchgeführte begleitende Hilfe im Arbeitsleben dienen der Förderung der Chancengleichheit im Wettbewerb mit nichtbehinderten Menschen
b) Auch wenn dem Abbau einer Erwerbslosigkeit von schwerbehinderten Menschen im Neunten Band des Sozialgesetzbuches eine wesentliche Bedeutung zukommt, bedeutet dies nicht, dass drohende oder bereits eingetretene Arbeitslosigkeit zugleich eine notwendige Bedingung für das Eingreifen dieser Regelungen im Allgemeinen und speziell der Vorschriften des § 102 Abs. 4 SGB IX a.F. bzw. § 185 Abs. 5 SGB IX n.F. wäre.
c) Die begleitende Hilfe gem. § 102 SGB IX ist nicht als „Eingliederungshilfe“ im Sinne einer punktuellen oder befristeten Unterstützung zu verstehen
d) Der Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz scheitert auch nicht daran, dass ein schwerbehinderter Mensch den Beschäftigungsumfang seiner bereits bestehenden Tätigkeit freiwillig reduziert hat, um einer anderen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, für die er eine Arbeitsassistenz benötigt. Die gesetzliche Regelung stellt ausschließlich darauf ab, ob eine Arbeitsassistenz für diese Tätigkeit notwendig ist.
e) Die gesetzlichen Regelungen bieten keinen Anhalt dafür, die Notwendigkeit der Arbeitsassistenz deshalb zu verneinen, weil ihre Inanspruchnahme durch Aufnahme oder Fortführung einer anderen, den Fähigkeiten und Kenntnissen des Schwerbehinderten gleichfalls entsprechenden Erwerbstätigkeit vermeidbar gewesen wäre.
f) Die Prüfung muss sich vielmehr darauf beziehen, ob die Voraussetzungen im Übrigen erfüllt sind. Das wäre nicht der Fall, wenn die Unterstützungshandlungen über das hinausgehen, was unter Berücksichtigung der konkreten Arbeitsumstände zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile geboten ist. (Anm.: Derartiges ist jedoch im Fall von Herrn Lang nie streitgegenständlich, bzw. nicht von Integrationsamt vorgetragen gewesen)
Für Herrn Lang, dem es einzig darum ging und geht, dass er als schwerbehinderter Unternehmer dieselben Wettbewerbschancen am Markt haben möchte wie ein Unternehmer ohne Behinderung, bedeutet dieses Urteil, dass sich sein ausdauernder Kampf am Ende gelohnt hat. Die dem Urteil folgende rückwirkende Bewilligung seiner Arbeitsassistenz ab 2014 sowie die ebenfalls rückwirkende Bewilligung des neuen Antrags ab Oktober 2016 beendete weiterhin die aufgrund der Zusatzausgaben für die Arbeitsassistenz angespannte finanzielle Lage für sein Unternehmen.
In Anbetracht der Tatsache, dass nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Ende des Jahres 2017 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland lebten, hat das Urteil eine hohe Bedeutung und wird einen wichtigen Einfluss auf eine einheitliche Gesetzesanwendung durch die Integrationsämter haben.
Herr Lang hat durch sein ausdauerndes Vorgehen eine bürokratische Hürde – nämlich die fehlerhafte Auslegung und Anwendung einer Gesetzesvorschrift durch die Verwaltung – aufgezeigt und erfolgreich bezwungen.
Herr Lang wurde in seinem vier Jahre andauernden Verfahren nicht nur moralisch sondern auch bzgl. der Verfahrenskosten finanziell vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) unterstützt. Die Auswirkungen des von ihm errungenen Urteils werden in der Zeitschrift des Verbandes „Sichtweisen“ von seinem Rechtsanwalt Herrn Dr. Michael Richter in der Ausgabe 08/2018 intensiv erörtert.
Pressemitteilung BVerwG vom 25.01.2018
Volltextveröffentlichung Urteil BVerwG vom 23.01.2018
Stand: 01/2019