Aus der Arbeitsunfähigkeit zur Existenzgründung
Claudia Domnik, 46 ist gelernte Gärtnermeisterin und Verwaltungsangestellte aus Neu-Isenburg. Sie hat sich 2011 nach schwerer Erkrankung mit ihrer Geschäftsidee „Kuchenseppel“, einem Käsekuchenhandel, aus der Arbeitslosigkeit selbstständig gemacht. Welche Rolle spielten dabei die für solche Zwecke vorgehaltenen staatlichen Einrichtungen?
Aufgrund einer bösartigen Tumorerkrankung, die Anfang 2010 festgestellt wurde, musste Frau Domnik sich zwischen 2010 und 2011 zahlreichen Operationen an ihrem Auge unterziehen, die eine langandauernde Behandlung mit starken Schmerzmitteln nach sich zogen. Seiher trägt Frau Domnik eine Augenklappe. Es war nicht abzusehen, wann sie wieder arbeitsfähig sein würde. Als ihr Anspruch auf Krankengeld wegen Erreichens der Höchstbezugsdauer von 78 Wochen zum 31.07.2011 auslief, stellte sie Mitte Juni 2011 bei der Agentur für Arbeit einen Antrag auf Arbeitslosengeld I und reichte ihre medizinischen Unterlagen ein.
Das arbeitsmedizinische Gutachten, welches sich auf ihre medizinischen Unterlagen stützte, ergab, dass Frau Domnik in ihrer Leistungsfähigkeit so weit gemindert war, dass sie nur noch weniger als 15 Stunden wöchentlich arbeiten konnte. Die letzte Operation lag gerade erst knapp zwei Monate zurück und Frau Domnik musste noch starke Schmerzmittel einnehmen. Als Folge dessen galt sie nicht als arbeitsfähig, war also nicht arbeitslos im Sinne des Sozialgesetzbuchs Dritter Teil (SGB III) und stand der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Sie war daher grundsätzlich nicht berechtigt, Leistungen der Arbeitsagentur in Anspruch zu nehmen.
Die Agentur für Arbeit forderte Frau Domnik mit Schreiben vom 15. Juli 2011 auf, einen „Antrag auf Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder Erwerbsminderungsrente“ bei der Deutschen Rentenversicherung zu stellen. Um nicht eine Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht (§ 145 SGB III i.V.m. § 60 SGB I) zu riskieren und nach Auslaufen ihres Krankengeldes ohne Unterstützung dazustehen, kam Frau Domnik dieser Aufforderung nach. Die Agentur für Arbeit bewilligte ihr sodann Ende August 2011 rückwirkend ihren Antrag auf Arbeitslosengeld nach der „Nahtlosigkeitsregelung.“ Das Verfahren bei der Rentenversicherung zur Feststellung ihrer Erwerbsfähigkeit lief derweilen.
Info: Krankengeld wird von den gesetzlichen Krankenversicherung gezahlt, wenn ein Versicherter infolge einer länger als sechs Wochen andauernden Krankheit arbeitsunfähig ist (§ 44 SGB V). Der Krankengeldanspruch wegen derselben Krankheit endet jedoch nach 78 Wochen innerhalb einer Blockfrist von 3 Jahren, § 48 SGB V. Nach Erreichen dieser Höchstbezugsdauer und Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit, endet die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung (Aussteuerung).
Nach Wegfall des Krankengeldes, auch um weiterhin krankenversichert zu bleiben, kann der Betroffenen Arbeitslosengeld bei Arbeitsunfähigkeit nach § 145 SGB III beantragen. Diese Leistung ist eine Sonderform des Arbeitslosengeldes und soll verhindern, dass ein Arbeitsloser weder Arbeitslosengeld noch Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erhält. Solange der Rentenversicherungsträger eine Erwerbsminderung nicht festgestellt hat, fingiert das Gesetz deshalb das gesundheitliche Leistungsvermögen des Arbeitslosen. Diese „Nahtlosigkeitsregelung“ endet mit der Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit durch den zuständigen Rentenversicherungsträger.
Voraussetzung für den Anspruch ist ein Antrag des Betroffenen auf Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung Behinderter oder Erwerbsminderungsrente beim zuständigen Rentenversicherungsträger, welcher innerhalb eines Monats nach Zugang eines entsprechenden Aufforderungsschreibens der Agentur für Arbeit gestellt werden muss. Wird ein solcher Antrag unterlassen, ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld, § 145 Abs. 2SGB III bzw. § 125 Abs. 2 SGB III alte Fassung.
Planung der Existenzgründung
Nachdem es Frau Domnik im Spätsommer 2011 zwei Monate nach der arbeitsmedizinischen Begutachtung gesundheitlich besser ging, plante sie die Wiederaufnahme einer Beschäftigung. Zwar galt sie seit der Krebserkrankung als schwerbehindert mit einem Grad von 100, jedoch hatte sie den Wunsch, langfristig wieder zu arbeiten. Eine frühzeitige Verrentung kam für die damals 44-Jährige nicht in Frage.
Nachdem Frau Domnik feststellen musste, dass es für sie mit ihrer Krankheitsgeschichte und deren sichtbaren Folgen auf dem Arbeitsmarkt nicht leicht werden würde, beschloss sie, ein eigenes kleines Unternehmen zu gründen, um sich eine Existenz aufzubauen. Hierfür erarbeitete sie einen gut durchdachten Businessplan. Sie fragte bei mehreren Banken nach einem Kredit für den Start in ihre Selbständigkeit in Höhe von 15.000 Euro und hoffte auf öffentlich-rechtliche Fördermittel. Obwohl bei den Banken ihr Businessplan gelobt wurde, wollte man für solch einen „geringen Betrag“ nicht für sie den „aufwendigen“ Antrag auf den sogenannten Gründerkredit bei der KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau, einer Anstalt öffentlichen Rechts) stellen.
Mangelnde Unterstützung durch die Arbeitsagentur
Um die Startfinanzierung schließlich selbst zu stemmen, verkaufte Frau Domnik fast ihren gesamten Besitz wie ihr Motorrad und Teile ihres Hausrats. Darüber hinaus informierte sie sich über die Möglichkeit des „Gründungszuschuss zur Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit“ der Agentur für Arbeit.
Zur gleichen Zeit teilte sie der Arbeitsagentur mehrfach telefonisch mit, dass es ihr gesundheitlich erheblich besser ginge und sie gerne den Gründungszuschuss beantragen wolle. Bei der Servicezentrale der Arbeitsagentur erwiderte man ihr, sie könne keine Leistungen der Arbeitsförderung in Anspruch nehmen, da sie dem Arbeitsmarkt ja nicht zur Verfügung stünde. Problematisch war, dass Frau Domnik nicht arbeitslos im gesetzlichen Sinne war, sondern das Arbeitslosengeld lediglich aufgrund der Nahtlosigkeitsregelung (s.o.) erhielt, bis seitens der Rentenversicherungsanstalt über ihre Erwerbfähigkeit entschieden werden würde. Dieser Verwaltungsvorgang war aufgrund ihrer arbeitsmedizinischen Begutachtung nachvollziehbar eingeleitet worden. Allerdings stimmte die Aktenlage inzwischen mit der Realität nicht mehr überein. Frau Domnik ging es besser und sie wollte wieder als arbeitsfähig eingestuft werden. Daher bat sie auch um einen neuen Termin zur arbeitsmedizinischen Begutachtung. Dieser wurde ihr jedoch verweigert.
Dabei erfüllte Frau Domnik durchaus die Voraussetzungen für den Gründungszuschuss nach § 57 SGB III alte Fassung. Aus unternehmerischer Sicht war ihr Businessplan erfolgsversprechend. Dies wurde ihr nicht nur von den Banken sondern auch von der Industrie- und Handelskammer (IHK) Offenbach durch eine positive „Tragfähigkeitsbescheinigung“ für die Beantragung des Gründungszuschusses bescheinigt.
§ 57 SGB III alte Fassung bis zum 28.12.2011
(1) Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbständigen, hauptberuflichen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden, haben zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf einen Gründungszuschuss.
(2) Ein Gründungszuschuss wird geleistet, wenn der Arbeitnehmer
1. bis zur Aufnahme der selbständigen Tätigkeit
a) einen Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach diesem Buch hat oder
b) eine Beschäftigung ausgeübt hat, die als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nach diesem Buche gefördert worden ist,
(…)
3. der Agentur für Arbeit die Tragfähigkeit der Existenzgründung nachweist und
4. seine Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung der selbständigen Tätigkeit darlegt.
Zum Nachweis der Tragfähigkeit der Existenzgründung ist der Agentur für Arbeit die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vorzulegen; fachkundige Stellen sind insbesondere die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, berufsständische Kammern, Fachverbände und Kreditinstitute. (…)
Suche nach anderweitiger Hilfe
Frau Domnik ließ sich nicht entmutigen und suchte weiter nach Unterstützung. Sie wollte ihre Sache vorantreiben, um noch vor dem 28.12.2011 den Gründerzuschuss nach alter Rechtslage zu erhalten. Der Grund hierfür war, dass sich die Voraussetzungen und Konditionen für den Zuschuss nach dem Stichtag stark verändern sollten. Nach neuer Rechtslage gibt es bei Vorliegen der Voraussetzungen keinen Rechtsanspruch mehr, vielmehr liegt die Gewährung des Zuschusses nun im Ermessen des Bearbeiters. Darüber hinaus verringert sich die Bezugsdauer von neun auf sechs Monate.
Am 31. August 2011 wandte Frau Domnik sich an den Integrationsfachdienst Offenbach (IFD). Dort bestärkte man sie in ihrem Vorhaben und setzte sich bei der Arbeitsagentur dafür ein, einen neuen Termin zur arbeitsmedizinischen Begutachtung für sie zu bekommen. Ohne Erfolg. Zunächst war es bereits schwierig, die zuständige Mitarbeiterin zu erreichen, denn bei der Agentur für Arbeit Frankfurt am Main werden telefonische Anfragen grundsätzlich von einer Servicezentrale entgegen genommen.
Der Integrationsfachdienst riet ihr, sich durch ihren Hausarzt ein aktuelles arbeitsmedizinisches Gutachten anfertigen zu lassen, welches ihr nunmehr wieder eine uneingeschränkte Erwerbsfähigkeit bestätigte. Dieses Gutachten interessierte die zuständige Mitarbeiterin bei der Arbeitsagentur aber scheinbar nicht. Man teilte ihr mit, dass ein solches Attest auf den Verlauf des Rentenantragsverfahrens wegen Erwerbsminderung keinen Einfluss habe. Die Sache läge ja jetzt bei der Deutschen Rentenversicherung. Die Arbeitsagentur könne nicht in ein laufendes Verfahren der Deutschen Rentenversicherung eingreifen, solange dort nicht über ihre Erwerbsfähigkeit entschieden sei. Wenn sie ihren Antrag zurückziehe, müsse sie zudem das ALG I zurückzahlen. Dagegen sagte man ihr bei der Deutschen Rentenversicherung, sie könne ihren Antrag dort gar nicht zurückziehen. Dies könne nur die Agentur für Arbeit selbst.
Es stellt sich die Frage, warum die Arbeitsagentur sich trotz der veränderten Ausgangslage so unbeweglich zeigte und scheinbar nicht bereit war, Frau Domniks Fall neu zu beurteilen.
Auf Anraten des Integrationsfachdienstes legte sie daher am 29.09.2011 bei der Agentur für Arbeit Widerspruch gegen das Aufforderungsschreiben zur Stellung eines „Antrags auf Rehabilitationsleistungen oder Erwerbsminderung“ und gegen die mehrfache Ablehnung einer neuen arbeitsmedizinischen Begutachtung ein. Mit einem weiteren Widerspruch wandte sie sich gegen einen am 28.09.2011 ergangenen Bescheid der Deutschen Rentenversicherung zur Bewilligung einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme. Aufgrund ihres verbesserten Gesundheitszustandes wollte und brauchte Frau Domnik eine solche Maßnahme inzwischen gar nicht mehr.
Wendepunkt nach Anruf von „BILD hilft“
Nachdem inzwischen drei Monate seit ihrer Genesung vergangen waren, ohne dass Frau Domnik irgendeine Bewegung in ihrer Sache erkennen konnte, wandte sie sich in ihrer Verzweiflung am 09.10.2011 an die Redaktion von „BILD hilft“ mit dem Aufruf „Hilfe, die Arbeitsagentur will mich nicht arbeiten lassen!“. Der Redakteur setzte sich daraufhin mit der Arbeitsagentur in Verbindung. Eine Woche später bekam sie einen neuen Termin beim Amtsarzt und wurde als uneingeschränkt arbeitsfähig begutachtet. Binnen kürzester Zeit wurde auch ihr Antrag auf Gründungszuschuss von der Arbeitsagentur positiv beschieden. Die Agentur für Arbeit teilte dem Rentenversicherungsträger mit, dass sich das Antragverfahren zur Erwerbsminderungsrente durch Arbeitsaufnahme erledigt hat.
Mittlerweile betreibt Frau Domnik seit zwei Jahren erfolgreich ihren Käsekuchenhandel „Kuchenseppel“. Ihr Durchhaltevermögen hat sich bezahlt gemacht. Das von ihr selbstständig entwickelte Businesskonzept, nämlich der Vertrieb einer frischen Ware mit Alleinstellungsmerkmal, dem „Käsekuchen aus dem Schwarzwald“, direkt vom Verkäufer an den Verbraucher, kommt gut an. Sie beschäftigt einen festen Mitarbeiter und sechs Aushilfen. Dieses Jahr stand sie im Halbfinale des 11. Hessischen Gründerwettbewerbes.
Stand: 12/2013