„Werner-Bonhoff-Preis“ Gewinnerin 2012
Renate Günther-Greene, Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen

Dokumentarfilmerin macht der Verwaltung Beine

In Gedenken an Renate Günther-Greene:  Die Werner-Bonhoff-Stiftung trauert um Frau Günther-Greene, die Gewinnerin des „Werner-Bonhoff-Preis-wider-den-§§-Dschungel“ 2012. Januar 2015.

Renate Günther-Greene aus Düsseldorf ist als Journalistin und Dokumentarfilmerin selbstständig tätig. Mit ihrer Kamera hat sie zwei Jahre lang zwei behinderte, junge Menschen begleitet, die jeweils einen Beruf ergreifen wollten, dessen Ausübung nicht in einer Behindertenwerkstatt, sondern nur auf dem regulären Arbeitsmarkt möglich ist. Daraus entstanden ist der Dokumentarfilm „Behindert. Was darf ich werden?“, der am 19. September 2011 in der WDR-Reihe „die story“ lief.

In dem Film wird am Fall Melanie Reifenberg aufgezeigt, mit welchen bürokratischen Hürden  behinderte Menschen rechnen müssen, wenn sie die Behindertenwerkstatt verlassen möchten, um auf dem regulären Arbeitsmarkt einer Tätigkeit nachzugehen. Die junge Frau hat das Down Syndrom und ist bereits seit drei Jahren über einen so genannten „Außenarbeitsplatz“ der Franz Sales Werkstatt (Essen), einer Werkstatt für behinderte Menschen, in einem Kindergarten, der Jona-Kita (Essen), beschäftigt und beliebt. Die Jona-Kita muss für die „Ausleihe“ von Melanie Reifenbergs Arbeitskraft allerdings monatlich 250 € an die Werkstatt bezahlen. Diese „Ausleihgebühr“ bedroht Melanie Reifenbergs Arbeitsplatz, denn die Kita kann die 250 €  stets nur durch Spendensammlungen aufbringen. Und obwohl Melanie Reifenberg gar nicht mehr in der Franz Sales Werkstatt beschäftigt ist, erhält die Werkstatt von dem zuständigen Kostenträger, dem Landschaftsverband Rheinland (LVR), monatlich knapp 1.300 € an staatlichen Geldern unter anderem für die Betreuung und Förderung der jungen Frau. Obwohl das Behindertenrecht (SGB IX) mit dem Instrument des Persönlichen Budgets (§ 17 SGB IX) eine den veränderten Umständen angepasste Aufteilung des Geldes an die Werkstatt und die Kita ermöglichen würde, scheitert die Umsetzung nach den Recherchen von Renate Günther-Greene bereits seit acht Jahren an dem Landschaftsverband Rheinland, dem größten Leistungsträger für Menschen mit Behinderungen in Deutschland.

Landschaftsverband Rheinland tat sich sehr schwer mit der Bewilligung des Persönlichen Budgets für Melanie Reifenberg

2001 wurde das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) erlassen. Es hat die bis dahin verworrene Rechtslage zum Behindertenrecht zusammengefasst und weiterentwickelt, um behinderten Menschen mehr Selbstbestimmung und eine bessere gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen (§ 1 SGB IX). Um die gesellschaftliche Teilhabe sicherzustellen, gewährt das Gesetz in § 17 SGB IX den Rechtsanspruch, ein Persönliches Budget zu beantragen. Mit dem Persönlichen Budget werden Teilhabeleistungen, auf die der behinderte Mensch Anspruch hat, als Geldleistung erbracht. Benötigt er beispielsweise einen Betreuer, um einer Berufstätigkeit nachgehen zu können, so wird der Betreuer nicht vom Kostenträger ausgesucht und zur Verfügung gestellt, sondern der behinderte Mensch bzw. sein gesetzlicher Vertreter bekommt vom Kostenträger Geld ausgezahlt, um den Betreuer, welchen er sich selbst aussucht, anzustellen und zu entlohnen. Damit wird der behinderte Mensch ggfs. mittels seines gesetzlichen Vertreters selbst zum Auftraggeber und übt seine Selbstbestimmung sowie eine Qualitätskontrolle für die jeweils budgetfähigen Leistungen aus.

In Melanie Reifenbergs Fall geht es um die knapp 1.300 €, die die Werkstatt vom Landschaftsverband Rheinland erhält. Dieses Geld möchte Melanie Reifenberg bzw. ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin als Persönliches Budget ausbezahlt bekommen, damit die junge Frau

    1. dauerhaft in ihrem Wunschberuf arbeiten kann,
    2. der Jona-Kita die monatliche Zahlung der 250 € für die „Ausleihe“ ihrer Arbeitskraft erspart und
    3. die Jona-Kita für den Mehraufwand an Anleitung und Betreuung, die sie benötigt, um ihrer Arbeit nachzugehen, bezahlen kann.

Anstatt Melanie Reifenberg bei der Ausübung ihrer Rechte zu unterstützen, wie es das SGB IX in § 22 bestimmt, riet der zuständige Kostenträger, der öffentlich-rechtliche Landschaftsverband Rheinland, jedoch jahrelang von der Beantragung eines Persönlichen Budgets ab. Von bestmöglicher Beratung und Unterstützung hinsichtlich der Selbstbestimmung und der Teilhabe an der Gemeinschaft durch den Landschaftsverband Rheinland kann im Fall von Melanie Reifenberg somit keine Rede sein. „Da geht es um Machtverschiebungen, andere Geldflüsse, da muss man nachdenken, da muss man sich umstellen und Arbeitskräfte eventuell anders einsetzen. Da lassen wir es doch lieber, wie es war. War doch gut so“, sinniert Renate Günther-Greene über die möglichen Ursachen für den Unwillen der Institution. Auch die Franz Sales Werkstatt zeigte sich gegenüber der Familie Reifenberg und der Dokumentarfilmerin insgesamt wenig kooperationsbereit. Sie verweigerte Frau Günther-Greene beispielsweise Auskünfte, war nicht zu einem Interview bereit und erteilte ihr keine Drehgenehmigung.

Mehrfach hatte Renate Günther-Greene das Gefühl, das Projekt abbrechen zu müssen, da sich in den Institutionen nichts tat und sie immer wieder an Wände stieß. „Meine Wut stieg, als mir klar wurde, dass die Institutionen, die eigentlich als Dienstleister für behinderte Menschen tätig werden sollen, sich nur um sich selber drehen. Anstatt als Dienstleister für die Behinderten da zu sein, ist ihnen ihr eigener Erhalt wichtiger.“ Diese Wut sowie die Motivierung und Unterstützung durch Menschen in ihrem Umfeld, halfen ihr, sich durch die bürokratischen Rückschläge in ihrer Arbeit nicht beirren zu lassen und das Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.

Weder Familie Reifenberg noch Renate Günther-Greene ließen sich durch die mangelnde Problemlösungsorientierung des Landschaftsverbandes Rheinland und der Franz Sales Werkstatt entmutigen. Mit Erfolg: Das Persönliche Budget wurde vom Landschaftsverband Rheinland letztlich bewilligt. „Geholfen haben Sturheit, Aussitzen, Nichtlockerlassen und irgendwann zermürbte die Gegenseite“, so die Dokumentarfilmerin. Behilflich bei der Umsetzung war auch der Landesverband Nordrhein-Westfalen der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V., der unter anderem auch eine Werkstatt für behinderte Menschen betreibt, in die Melanie Reifenberg schließlich wechselte. Denn die Sozialversicherungsbeiträge zahlt der Bund nur, solange eine Anbindung an eine Werkstatt besteht. Die Werkstatt der Lebenshilfe verfügte im Gegensatz zur Franz Sales Werkstatt bereits über ein Konzept zur Umsetzung des Persönlichen Budgets.

Renate Günther-Greene sorgt für Ansporn der Verwaltung durch Kontrolle von außen

Durch die filmische Begleitung hat Renate Günther-Greene maßgeblich dazu beigetragen, dass Melanie Reifenberg die Hürden überwinden und ihr Ziel, nämlich mittels des Persönlichen Budgets einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachzugehen, erreichen konnte. Seit der Ausstrahlung des Films steigt das Interesse an einem Persönlichen Budget erheblich, wie die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.“ mitteilt. Denn viele Menschen fühlen sich nun offenbar motiviert und bestärkt darin, bei der Durchsetzung ihres Anspruchs auf ein Persönliches Budget gegenüber unwilligen staatlichen und staatlich finanzierten Institutionen nicht mehr locker zu lassen. Die Preisträgerin hat damit eine Schneise geschlagen für Menschen mit Behinderungen, ihren Anspruch auf ein Persönliches Budget durchzusetzen, um einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachgehen zu können.

In dem Film wird zudem deutlich aufgezeigt, dass die öffentliche Verwaltung und der sogenannte verborgene öffentliche Sektor, der Dschungel der verselbstständigten Bürokratien, gefordert sind, Lösungen am und für den Einzelfall zu entwickeln und nicht etwa schablonenhaft zu denken und zu handeln. Mit den Mitteln des Dokumentarfilms hat Renate Günther-Greene für Ansporn der Verwaltung durch  Kontrolle von außen gesorgt, die der öffentlichen Verwaltung helfen, gute Arbeit zu leisten. Sie ist damit ein Vorbild für unternehmerische Menschen, sich mit Bürokratismus nicht abzufinden und einen Beitrag zur notwendigen Kontrolle der Verwaltung von außen zu leisten. Hierfür wird sie am 10.05.2012 mit dem Werner-Bonhoff-Preis wider den §§-Dschungel 2012 ausgezeichnet.

Renate Günther-Greene dreht seit 2004 Dokumentarfilme und war 2008 für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. „Behindert. Was darf ich werden?“ ist ihr neunter Film. Er lief am 19.09. 2011 im WDR. Vor 2004 war sie als Kreativ-Direktorin in der Werbebranche tätig, hat nebenbei pro bono Sozialkampagnen wie „Schreib dich nicht ab – lern lesen und schreiben“ des Bundesverbandes für Alphabetisierung betreut. Der Auslöser für ihren Wunsch, Dokumentarfilme zu drehen, war ein Besuch der Berlinale 2004, bei dem sie sich Dokumentarfilme aus aller Welt anschaute und am Ende feststellte: „Das willst Du auch machen“. Weitere Informationen über Renate Günther-Greene und ihre filmischen Arbeiten finden Sie auf ihrer Homepage www.menschentaucher.de.

Stand der Falldarstellung: 05/2012

 

Lesen Sie auch das Statement anläßlich der Pressekonferenz zur Preisverleihung des Werner-Bonhoff-Preises der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) e.V. 

 

Weitere Preisträger…

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