„Werner-Bonhoff-Preis wider den §§-Dschungel“ 2011 an IHK-Rebell
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Kai Boeddinghaus ist Inhaber eines Reisebüros in Kassel und somit als Unternehmer Pflichtmitglied der IHK Kassel. Im September 2004 übersandte die IHK Kassel den Mitgliedern der Vollversammlung ein Grundsatzpapier zum „Gewerbe- und Industriestandort Hessen“, die so genannte „Limburger Erklärung“. Darin verbreitete die IHK Kassel konkrete Forderungen an die hessische Landesregierung zu Themen wie Bildungs-, Forschungs-, aber auch Umwelt- und Energiepolitik.
Diese Erklärung wurde von Funktionären der hessischen Industrie- und Handelskammern ohne Beteiligung der Vollversammlungen erarbeitet. Herr Boeddinghaus beanstandete, dass die IHK Kassel das Grundsatzpapier ohne die Vollversammlung der IHK Kassel als demokratisches Herzstück erarbeitet und veröffentlicht hatte. Dieses Vorgehen empfand er als Verletzung seiner demokratischen Rechte als IHK Mitglied, wie auch aller anderen IHK Mitglieder.
Deshalb wandte er sich an die IHK Kassel und forderte die Unterlassung jeglicher Aktivitäten im Zusammenhang mit diesem Grundsatzpapier. Darüber hinaus beschwerte er sich über die Finanzierung dieser Aktivitäten aus Mitgliedsbeiträgen. Die IHK Kassel zeigte sich unwillig und lehnte seine Unterlassungsaufforderung ab. Da Herr Boeddinghaus aufgrund der verpflichtenden Mitgliedschaft in der IHK nicht austreten kann um seinen Widerspruch auszudrücken, zog er vor Gericht.
Herr Boeddinghaus klagte gegen die Erklärungen in diesem Grundsatzpapier und zweifelte die Rechtmäßigkeit seines Zustandekommens an. Als Folge der inhaltlichen Beteiligung in der IHK Vollversammlung wäre auch die Frage diskutiert worden, ob die IHK Mitglieder überhaupt derartige Grundsatzpapiere veröffentlichen wollen.
Klage gegen Kompetenzüberschreitung vor höchster Instanz
Im Frühjahr 2009 landete der Streit vor dem Bundesverwaltungsgericht. Das Bundesverwaltungsgericht gab im Juni 2010 Herrn Boeddinghaus Recht und verurteilte das Vorgehen der IHK als rechtswidrig.
Das Grundsatzpapier war in einer Arbeitsgemeinschaft von Industrie- und Handelskammern entstanden, die, so das Bundesverwaltungsgericht, „in ihrer Gesamtheit nicht von ihren Mitgliedern ermächtigt waren.“ Der Arbeitsgemeinschaft gehörten nur die Präsidenten und Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammern an, die über die Köpfe der Mitglieder hinweg das Papier erarbeitet und ohne deren Zustimmung verbreitet haben. Im Hinblick auf die Organisationsformen der Kammern auf Landes- und Bundesebene machte das Gericht klar, „dass durch einen solchen Zusammenschluss die Kompetenzen der Beklagten nicht erweitert werden“ dürfen.
Weiter heißt es wörtlich: „Erklärungen und Stellungnahmen der IHK sind nur dann zulässig, wenn sie unter Einhaltung des dafür vorgesehenen Verfahrens zustande gekommen sind.“ Die IHK Kassel hätte demnach vorab eine Meinungsbildung der Vollversammlung herbeiführen und deren Zustimmung einholen müssen.
Das Bundesverwaltungsgericht hielt fest, dass es den Industrie- und Handelskammern zwar grundsätzlich erlaubt ist, sich zu dem Kernbereich der Wirtschaftspolitik zu äußern. In Bereichen jedoch, die nicht unmittelbar zu diesem Themenkreis gehören, wie etwa Schul-, Bildungs-, Familien- oder Kulturpolitik, fehlt der IHK die Sachkompetenz.
Verselbstständigte Bürokratie in Schranken verwiesen
Die Industrie- und Handelskammern gehören zum Bereich des verborgenen öffentlichen Sektors mit seinen so genannten verselbstständigten Bürokratien. Sie sind auffallend oft Ursprung bürokratischer Hürden. Allein deren Vielzahl und Unübersichtlichkeit bringen unternehmerische Menschen erhebliche Erschwernisse. Häufig sind diese verselbstständigten Bürokratien als solche nicht sofort zu erkennen. Sie erscheinen vordergründig wie privatwirtschaftliche Unternehmen und sind doch staatlich organisiert.
Die IHK Kassel reagierte mit einer Stellungnahme auf das Urteil und „begrüßt die deutliche Klarstellung durch das höchste Verwaltungsgericht.“
Das Urteil befriedigt Kai Boeddinghaus umso mehr, als er sich auch im Bundesverband für freie Kammern (bffk) e.V. engagiert, deren Geschäftsführer er inzwischen ist. Der bffk fordert eine Demokratisierung der Kammern und Abschaffung des Kammerzwangs.
Im Fall Kai Boeddinghaus wird deutlich, wie diese verselbstständigten Bürokratien sich von ihrem gesetzlichen Auftrag entfernen können. Sie überschreiten damit ihre Kompetenzen. Herr Boeddinghaus hat die Nützlichkeit der IHK Aktivitäten in Frage gestellt und sich erfolgreich dagegen gewehrt, dass Industrie- und Handelskammern ohne Legitimation ihrer Mitglieder allgemeinpolitische Erklärungen heraus geben.
Damit stärkt das Urteil deutschlandweit die Rechte aller IHK Mitglieder. Seine Botschaft erfasst auch ähnliche Organisationen, wie z.B. die Handwerkskammern.
Die Werner Bonhoff Stiftung ehrt Kai Boeddinghaus für sein waches Engagement mit der Vergabe des mit 50.000 Euro dotierten „Werner-Bonhoff-Preis-wider-den-§§-Dschungel“ 2011.
Stand der Falldarstellung: 05/2011
Fotos des Preisträgers und der Preisverleihung finden Sie in unserem Pressebereich.